Das Allroundtalent
Die Zeiten könnten für Motorradfans kaum besser sein. Dank guter Verkaufszahlen in allen Segmenten werden alte Marken wiederbelebt, die Elektronik ist inzwischen auf so hohem Niveau, dass selbst Profis kaum durch den Regelbereich eingebremst werden und in Sachen Leistung übertreffen sich die Hersteller immer wieder gegenseitig. Entsprechend abwechslungsreich und spannend ist das Leben als Motorradjournalist. Aber auch hier gibt es im Arbeitsalltag Begegnungen und Aufgaben, die auf den ersten Blick nicht unbedingt als Highlight zu werten sind und eher unter der Kategorie „Routinetätigkeit“ abgelegt werden. So ging es mir, als der Test der neuen Honda CL500 auf dem Programm stand. Wie habe ich mich geirrt.
Das Zündschloss der CL500 befindet sich links im Bereich des Rahmens …
… das Lenkerschloss sitzt rechts unter dem Lenkkopf.
Tarnen und Täuschen
Wie mir das passieren konnte? Nun, blickt man nur auf die bloßen Zahlen und Daten des Motorrads, lenkt einen die kleine Honda schnell auf eine falsche Spur. Nichts ist hier spektakulär, Superlativen sucht man vergebens. Der Reihenzweizylinder macht mit seinen 471 Kubikzentimeter nicht mal den halben Liter voll und auch das 48-PS-Limit für den A2-Führerschein wird durch die nominell 46,6 PS bei 8.500 Umdrehungen nicht ganz ausgereizt. Das Gesamtpaket ist ebenfalls nicht wirklich neu, da Rahmen und Motor in ähnlicher Form bereits in der Honda CMX500 Rebel zum Einsatz kommen.
Das Konzept ist bei der CL500 aber ein gänzlich anderes. Die neue CL ist von Hondas CL72 aus den Sechziger Jahren inspiriert und soll mit dem breiten Lenker, dem hochgezogenen Auspuff und der geraden Sitzbank Scrambler-Charme versprühen. Entsprechend groß ist die Zielgruppe und das anvisierte Einsatzgebiet. Von Großstadtdschungel bis Waterkant soll die CL500 zum Einsatz kommen, sowohl Novizen als Routiniers sollen am A2-Scrambler gefallen finden.
Egal, ob als erstes Bike für Führerscheinneulinge oder als Zweitmotorrad für Vielfahrer und Kilometerfresserinnen – um die unterschiedlichen Anforderungen zu meistern, muss die CL zugänglich sein. Und hier überrascht das Testmotorrad mit dem schicken, Candy Caribbean Blue Sea genannten Lack das erste Mal. Schon beim ersten Sitzkontakt wird klar, dass Honda in Sachen Ergonomie alles richtig gemacht hat. Die Sitzbank ist mit 790 Millimeter noch niedrig genug, dass auch kleinere Fahrer und Fahrerinnen einen sicheren Stand haben, bietet aber auch genügend Raum für Personen über 1,80 Meter Körpergröße. Gleiches gilt für den Lenker und die Fußrasten. Hände und Füße finden wie von allein ihren Platz, alles fühlt sich direkt vertraut an.
Einen kurzen Moment der Verwirrung erlebt man vor den ersten Metern dann aber doch. Denn während die meisten Motorräder das Zündschloss im Bereich der oberen Gabelbrücke haben, sitzt dieses an der CL auf der linken Seite unterhalb des Tanks im Bereich des Rahmens. Vollends verwirrend wird es, wenn das Lenkerschloss eingerastet ist. Denn dieses befindet sich wiederum vorne rechts im Bereich des Lenkkopfs.
Fließt erst mal Strom und wird die CL500 per Druck auf den Anlasserknopf zum Leben erweckt, herrscht schnell wieder Wohlfühlatmosphäre. Der Zweizylinder mit 180-Grad-Kurbelwellenversatz und vier Ventilen je Zylinder brabbelt im Stand ohne störende Vibrationen leise vor sich hin, die Anti-Hopping-Kupplung benötigt kaum Handkraft, der erste Gang des leichtgängigen Getriebes rastet akustisch kaum wahrnehmbar ein.
Hochgezogener Auspuff, breiter Lenker, grobe Bereifung – die CL500 ist der neue Scrambler in Hondas Modellpalette.
Gut und günstig zum Ersten: die aus einfachem Stahlrohr gefertigte Schwinge sieht gut aus.
Gut und günstig zum Zweiten: die beiden Federbeine sind nur in der Vorspannung einstellbar.
Weder die Gabel …
… noch Brems- und Kupplungshebel sind einstellbar.
Wieselflinker Großstadtbrenner
Hat man Fahrt aufgenommen, folgt sehr schnell die nächste, sehr positive Überraschung, die auf Basis der technischen Daten des Motorrads nicht zu erwarten ist. Während die Hersteller für die meisten Modelle das Fahrzeuggewicht im fahrfertigen Zustand angeben, spricht Honda bei der CL500 von 191 Kilogramm trocken – also dem Gewicht ohne Betriebsstoffe. Rechnet man Öl, Kühlflüssigkeit und den Inhalt des 12 Liter fassenden Spritreservoirs noch hinzu, bringt die kleine Honda wahrscheinlich knapp 210 Kilogramm auf die Waage.
Im Fahrbetrieb spürt man davon aber absolut gar nichts – im Gegenteil. Ist die CL in Bewegung begeistert sie mit ihrem geradezu leichtfüßigen Handling, ohne dabei auch nur im Ansatz nervös zu wirken. Dass sorgt dafür, dass man sich sofort pudelwohl auf dem Motorrad fühlt und im Stadtverkehr schnell jede Lücke nutzt, um zügig voranzukommen.
Landstraßenspaß mit Wohlfühlgarantie
Für wirkliches Erstaunen sorgt die CL dann, wenn man den urbanen Raum hinter sich lässt. Ist man im klassischen Tourenrevier und auf Land- und Nebenstraßen unterwegs, blüht die CL noch mal richtig auf. Mit den knapp 47 PS reißt man zwar keine Bäume aus, das Aggregat generiert aber genug Vortrieb für dynamischen Fahrspaß. Die genannten Handling-Eigenschaften entfalten natürlich auch im Kurvengeschlängel ihre positive Wirkung, werden hier aber noch durch zwei weitere Merkmale verstärkt.
Denn die CL lenkt nicht nur leichtfüßig und willig ein, sie glänzt auch bei zunehmender Schräglage mit neutralem Fahrverhalten. Das schafft viel Vertrauen. So macht es einem das Motorrad sehr einfach, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Kurve anvisieren, abwinkeln und mit einem Lächeln im Gesicht die Freuden des Motorradfahrens genießen. Dabei spielt es fast keine Rolle, ob man auf Asphalt vom Typ „Babypopo“ oder „Rübenacker“ unterwegs ist. Bis auf die Vorspannung der beiden hinteren Federbeine ist das Fahrwerk zwar nicht einstellbar und wirkt im ersten Moment sehr weich. Im Fahrbetrieb gibt es aber keine Kritikpunkte und sowohl an Front als auch achtern werden Fahrbahnunebenheiten jeder Couleur gut weggefiltert.
Und was passiert, wenn ein Motorrad einem ein so souveränes Gefühl und Vertrauen vermittelt? Genau, das Tempo steigt. Schnell hat man sich auf die CL eingestellt und wedelt zügig von Radius zu Radius. Das funktioniert zumindest so lange hervorragend, bis man an einer Steigung hinter einem Pkw festhängt. Am Berg macht sich dann doch irgendwann die Kombination aus recht hohem Gewicht und niedriger Leistung bemerkbar. Hier hilft es auch nicht, dass das maximale Drehmoment von gut 43 Newtonmeter schon bei 6.250 Umdrehungen ansteht und der Motor mit Leichtigkeit Richtung Begrenzer dreht. Werden die Geraden am Hang kürzer, reicht der Vortrieb nicht, um mit einem kurzen Sprint am Automobil vorbeizuhuschen. Den Fahrspaß trübt das aber nicht. In solchen Situationen genießt man kurz die entspannte Sitzposition hinter dem superschmalen Tank und erfreut sich an Aussicht und Laufruhe des Motors.
Der sehr schmale Tank der CL fasst 12 Liter Sprit und besitzt klassische Kniepads.
Die Sitzbank ist 790 Millimeter hoch und kann optional gegen eine höhere Variante getauscht werden.
Viel einzustellen gibt es am A2-Scrambler nicht. Eine Traktionskontrolle ist nicht an Bord, das Display liefert nur die nötigsten Informationen.
Von Baggersee bis Nordseestrand
Mit der CL500 bietet sich aber unter Umständen noch eine Ausweichmöglichkeit. Als Scrambler soll die Honda auch abseits befestigter Wege zu Hause und mit dem 19-Zoll-Vorderrad, dem breiten Lenker und den griffigen Fußrasten unter schwierigeren Bedingungen beherrschbar sein. Und auch hier bietet die CL mehr, als man auf den ersten Blick erwartet. Verlässt man asphaltierte Straßen, ermöglicht die CL auch bei einer Körpergröße von 1,80 Meter problemlos das Fahren im Stehen und sorgt dann für mächtig Fahrspaß. Alle Hebel sind auch in aufrechter Fahrposition noch gut zu erreichen, die Fußrasten geben ordentlich Halt, der breite Lenker sorgt nicht nur auf Asphalt, sondern ebenfalls auf losem Untergrund für Kontrolle. Hätte man sich am Berg hinter dem Auto einen Tick mehr Leistung gewünscht, sind die 47 PS hier genau richtig. Die CL besitzt zwar keine Traktionskontrolle, aber auch ohne Elektronik hat man die Kraftentfaltung des A2-Scramblers auf Feldwegen jeder Art gut im Griff.
Gleiches gilt auch bei negativer Beschleunigung. Hier schützt in der CL500 natürlich das obligatorische ABS vor verheerenden Fehlern durch ungestüme Verzögerungsmanöver. Die Bremsanlage mit einer 310 Millimeter Scheibe vorne und einer 240 Millimeter Scheibe hinten ist bei der Leistungsentfaltung aber eher konservativ ausgelegt und dadurch sehr gut beherrschbar.
Es ist also egal, ob man einen Feldweg als Abkürzung nutzen oder über unasphaltierte Pfade zum Baggersee oder den Strand fahren möchte – auch dieses Terrain meistert die CL500 überraschend gut.
Honda setzt an der CL auf LED-Beleuchtung.
Als Scrambler besitzt die CL500 natürlich eine hochgezogenen Abgasanlage.
Die CL500 ist in vier Tankfarben erhältlich: Candy Energy Orange, Matt Gunpowder Black Metallic, Marc Laurel Green Metallic und Candy Caribbean Blue Sea.
Siegerin der Herzen
Wer hätte das gedacht: Honda gelingt mit der CL500 ein großer Wurf und das A2-Bike ist für mich eine der großen Überraschungen des Jahres. Sicher, für jeden Einsatzzweck gibt es ein Motorrad, dass explizit für diesen entwickelt wurde und die CL500 in der entsprechenden Disziplin hinter sich lassen würde. Und natürlich hat die Honda Punkte, die praktischer umgesetzt sein könnten. Die eigenwillige Lösung mit Zünd- und Lenkradschloss wurde ja bereits genannt. Auf der Tour oder für Pendler wäre unter Umständen eine USB-Ladebuchse wünschenswert und auch der Kniewinkel für den Sozius könnte etwas entspannter ausfallen. Das sind aber tatsächlich Nichtigkeiten im Vergleich zum tollen Gesamtpaket.
Für nicht einmal 7.000 Euro bekommt man mit der CL500 ein Motorrad, das von Stadtverkehr über Wochenendausflug bis Feldwegtour jede Herausforderung mitmacht und dabei nicht nur extrem viel Fahrspaß bietet, sondern sich dabei auch noch mit gerade einmal 3,8 Liter Sprit auf 100 Kilometer zufrieden gibt.
Auf den ersten Blick sticht die CL nicht aus der Masse heraus, die Summe ihrer Eigenschaften macht sie aber in allen Bereichen so gut, dass sie das Zeug zur Siegerin der Herzen hat. Glaubst Du nicht? Dann ab zum Honda Händler und eine Probefahrt machen. Auch Du wirst überrascht sein!
Fotos: Michael Praschak
Über den AUTOR
Michael Praschak
Freier Mitarbeiter.
Schreibt über aktuelle Motorräder, die er vorher auf diversen Strecken ausgiebig getestet hat.
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