Himalayan für Heimatverbundene
Von Ralf Bielefeldt
24 PS sind für ein richtig cooles „Urban Adventure Bike“ zu knapp bemessen, mag der eine oder andere denken. Auch 32 Newtonmeter Drehmoment sind nicht weiter der Rede wert, betrachtet man es mit den Augen eines Ampelsprinters. Aber beide Sichtweisen zählen nicht in der Welt von Royal Enfield, wo kein Serienbike mehr als 48 PS und bestenfalls zwei Zylinder hat. Die neue Scram 411 begnügt sich traditionell mit einem. Und der reicht völlig aus bei diesem schön gemachten „Weniger ist mehr“-Motorrad.
Die Scram 411 entschleunigt und erdet. Motorrad fahren in Reinkultur mit einem Schuss Esprit und Lifestyle-Attitüde – dafür steht sie. Keine Fahrmodi, keine elektronischen Fahrhilfen außer Zwei-Kanal-ABS, kein tiefschürfendes Bordmenü. Die Bedienung ist simpel, die Zahl der Schalter und Taster übersichtlich (vier rechts, vier links), das Fahrverhalten gutmütig.
Aufsteigen, Gas geben, happy sein.
Die anspruchslose, aber auffällige Scram 411 passt mit ihrer unaufgeregten, selbsterklärenden Art gleichermaßen nach London, Neu-Delhi, Tokio oder eben ins bayerische Hopfenparadies Pfaffenhofen an der Ilm, wohin Royal Enfield zur Fahrpräsentation eingeladen hatte. Basis der Scram ist die Enfield Himalayan. Die robuste Geländemaschine ist in ihrem Heimatland Indien so etwas wie die BMW R 1250 GS bei uns – das Nonplusultra, wenn es darum geht, irgendwo auf dieser Welt über Stock und Stein ans Ziel zu kommen. Auch hierzulande hat sie viele Fans. Mit einem Gewicht von 199 Kilogramm (fahrbereit) ist sie das ideale Motorrad, um in die hinterste Ecke der Welt zu gelangen, wo einem nicht unbedingt jemand beim Aufrichten seines Motorrads helfen kann. Vor allem weibliche Globetrotter schätzen die brave Himalayan dafür.
Zum Niederknien schön: Klassisches Retrodesign vorn wie hinten – typisch Royal Enfield eben.
Minimalistisches Cockpit; im kleinen rechten Display wird die mit dem Smartphone gekopptelte Navigation grob angezeigt.
Abenteuer im Alltag statt im Atlas-Gebirge
Der Scram 411 ist fahrbereit sogar noch einmal sieben Kilo leichter und sucht das Abenteuer im Alltag statt im Atlas-Gebirge. Leichte Offroad-Skills reichen ihr vollkommen, um Fahrer(innen) glücklich zu machen. Ihr Zuhause ist der „Urban Jungle“. Der Weg zum Office oder Einkauf, zum Eiscafé oder sonst wohin. Am Wochenende darf dann gern auch mal ein bisschen Schotter unter die schmalen Multi-Purpose-Reifen kommen. Ist ja schließlich ein Scrambler, die Scram.
Die Sitzposition ist auch für Menschen um die 1,80 Meter nahezu perfekt. Aufrecht und entspannt reckt man die Nase in den Wind – und wähnt sich irgendwie schneller, als man ist. Das macht die Scram 411 zum Triumph Spitfire unter den Motorrädern. 60 km/h fühlen sich an wie 100, 120 km/h fast wie 180. Schnell sein ist auch Kopfsache. Die fünf Gänge rasten sauber ein. Zwischen dem vierten und fünften Gang – so bei 80 Sachen – wirkt die Scram geradezu spritzig für ihre Verhältnisse. Ein Wohlfühlmoment für Mensch und Maschine.
Überholvorgänge an Steigungen sollte man sich gleichwohl gut überlegen. Aber wozu der Stress? Die Scram ist eher Omm als Brumm. Sollen die anderen doch über die Gegenfahrbahn schießen. Dafür wendet die Scram 411 mangels Masse quasi auf der Stelle, fährt niemals schneller als das Autobahnrichttempo und legt äußerst genügsame Trinkgewohnheiten an den Tag. Rührige 3,2 Liter 100 km gibt Royal Enfield als Verbrauch an. Bei der ersten offiziellen Testfahrt im Hopfenparadies an der Ilm kam das ziemlich genau hin.
Exakt bestimmen ließ sich der Verbrauch mangels adäquatem Bordcomputermenü nicht, aber nun: 15 Liter passen in den Tank, rund 150 Kilometer sind wir gefahren, und am Ende fehlte gut ein Drittel des Kraftstoffs. Kommt also hin, so übern Daumen.
Bei fünf Farbvarianten ist sicherlich für jeden Geschmack etwas dabei.
Wackerer Einzylinder
Rahmen, Fahrwerkskomponenten und den wackeren Einzylinder hat Royal Enfield eins zu eins für die Scram übernommen. Der Namenszusatz steht für den Hubraum: 411 Kubikzentimeter. 190 Millimeter Federweg vorn (Himalayan: 200 mm), 180 mm hinten, Teleskopgabel und Zentralfederbein – fahrwerkstechnisch geben sich die zweieiigen Zwillinge so gut wie nichts. Auch die sanft agierende Bremsanlage ist gleich (300 mm vorn, 240 mm hinten). Wie die Himalayan und der kleine Cruiser Meteor gibt es ein kleines Rundinstrument für die serienmäßige Turn-by-Turn-Navigation. Die Hinweise erfolgen Google-Maps-gestützt übers gekoppelte Smartphone. Die passende Royal-Enfield-App gibt es kostenlos in den gängigen Download-Stores.
Links neben dem Konnektivitätsgeschenk sitzt das ebenfalls runde, aber deutlich größere Instrument für die Geschwindigkeits- und Tankfüllstandanzeige. Drehzahlmesser? Überflüssig. Den Schaltzeitpunkt hört man.
Entschleunigungsmaschine mit 24 PS.
Auch halb liegend sind kaum mehr als 130 km/h Höchstgeschwindigkeit drin.
Der Sound des Einzylinders ist herrlich ehrlich. Kernig, aber nie aufdringlich. Wie das gesamte Bike. Den H4-Scheinwerfer fasst eine gusseiserne Lampenverkleidung ein. Das ist stilistisch stringent. Gleiches gilt fürs 19-Zoll-Vorderrad, das die 21-Zoll-Felge der Himalayan ersetzt und dicke reicht für einen Urban Scrambler. Rechts und links unterm Tank hat Royal Enfield „Urban Plates“ platziert. So heißen die bunten seitlichen Anbauteile vorn am Rahmen. Einziger Zweck: Farbe ins Spiel bringen. Rot, Gelb, Blau oder Grau-Türkis, um genau zu sein. Eine optisches Gimmick, mehr nicht, das aber den Charakter der Scram 411 gleich mal in Richtung Lifestyle-Gadget pusht.
Das Fahrerdreieck wurde gegenüber der Himalayan leicht überarbeitet. Längere Passagen im Stehen wird der Scram-Fahrer nicht zurücklegen. Die Griffe befinden sich etwas tiefer als bei der Himalayan. Auch die Sitzhöhe hat Royal Enfield ein wenig auf 795 mm abgesenkt. Das durchgehende Polster ist leicht gerippt und bietet problemlos Platz für zwei. „Die meisten Scrambler-Motorräder konzentrieren sich nur auf Ästhetik und Aussehen“, sagt Mark Wells, Chief of Design bei Royal Enfield. „Als wir mit der Arbeit an der Scram 411 begannen, waren wir fest entschlossen, ein Motorrad zu schaffen, das sich durch sein Design und seine Zweckbestimmung auszeichnet und das Beste aus den Möglichkeiten der rauen Straße in die Stadt bringt.“ Und das für vergleichsweise kleines Geld: Faire 4.990 Euro ruft Royal Enfield für seinen Adventure-Crossover auf. Wer eine der beiden Premium-Varianten („Silver Spirit“, „White Flame“) begehrt, erkennbar an der etwas aufwendigeren Lackierung, zahlt 200 Euro mehr. Macht ab 5.190 Euro. Genau so viel kostet die Basis-Himalayan auch.
Fotos: Autoren-Union Mobilität/KSR Group