Frisch gewetzte Krallen

Im englischen nennt man es „Coming of Age“ – die englischen Tiger sind in die Jahre gekommen, in denen sie auch Granden wie der GS die Krallen zeigen dürfen.

Man kann es gar nicht anders beschreiben: Für die Tiger 1200, der neuen Großkatze aus dem Hause Hinckley, haben die Briten im März ganz großes Fahrkino geliefert. Hinter Albufeira, quasi in Wurfweite der Rennstrecke Portimão, liegt eine beeindruckende Bergwelt. Sie schirmt die Sonnenstrände und Tourismushochburgen im Süden von den verwinkelten Tälern, steilen Höhen und einsamen Weiten des portugiesischen Hinterlandes ab. Entsprechend sind die Straßen, die sich nach Norden in tiefe Wälder, Nationalparks und die einsame Region Beja hinein winden: ruppig, rau und rustikal.
So muss es sein; die richtigen Straßen und Tracks für die große Dreizylinder, mit der Triumph in der Liga der großen Reise-Enduros endlich ganz oben mitspielen und dem altgedienten Platzhirschen GS ein Teil des Reviers streitig machen will. 

Zeit für Runderneuerung

So sieht und sagt es jedenfalls Miles Perkins, seines Zeichens oberster Brandmanager bei Triumph Motorcycles: „Wer in dieses Segment bestehen will, muss sich natürlich an der Spitze messen lassen. Da ist BMW die Benchmark. Deshalb haben wir auch nicht irgendetwas überstürzt auf den Markt geworfen, sondern in Ruhe komplett Neues entwickelt.“ Im Kern hat Perkins damit Recht: Es hat zehn Jahre gedauert, bis Triumph die im Frühjahr 2012 in den Verkauf gegangene alte Tiger Explorer – der Name wurde 2017 in Tiger 1200 geändert – jetzt ersetzt. Was damals noch State-of-the-Art war und der Klasse angemessen, wirkte heute fast altbacken: Sicher noch eine extrem präsentable und kommode Reisemaschine, doch inzwischen viel zu schwer und zu träge im Gelände. Die Verkäufe lagen etwa im Jahr 2020 in Deutschland noch bei rund 500 Fahrzeugen.
Doch genau an den Kritikpunkten hat Triumph nun angesetzt. Miles Perkins sagt während der Vorstellung: „Im Grunde haben wir jede einzelne Baugruppe auf den Prüfstand geholt. Motor, Chassis, Kardan, Elektronik, jedes Detail.“ Die Mühe hat sich, so berichten die Zahlen, gelohnt: Die Tiger 1200 des Jahrgangs 2022 ist – je nach Ausführung – bis zu 25 Kilogramm leichter als das vergleichbare Vorgängermodell; die leichteste Version wiegt jetzt 240 kg. Sie hat gleichzeitig mit 150 PS neun Pferdestärken mehr.
Dabei ist Triumph gerade bei der Gewichtsreduzierung ungewöhnliche Wege gegangen: Das Hinterrad wird jetzt nicht mehr durch die einseitige Kardanschwinge geführt, sondern zweiseitig im so genannten Trilink-System. Die neue Schwinge mit der komplex anmutenden Dreipunktbefestigung an der hinteren Achse ist, das bestätigt der Fahrtest später, nicht nur extrem stabil, sondern auch fast 1,5 Kilo leichter, weil das Kardangehäuse nennenswert abgespeckt hat.    

Fallert Achern Team

Sehen und gesehen werden: Die Voll-LED-Beleuchtung überzeugt mit Tagfahrlicht und adaptivem Kurvenlicht.

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Des Tigers Thron ist höhenvariabel: Der Sitz ist bei allen Modellen in zwei Höhen verstellbar und liegt zwischen 850 mm (GT) und 895 mm (Rally). 

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Äußerst innovativ: Der Windschild lässt sich auch während der Fahrt mit einer Hand in der Höhe verstellen.

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Die neue Schwinge mit der komplex anmutenden Dreipunktbefestigung ist nicht nur extrem stabil, sondern auch fast 1,5 Kilo leichter, weil das Kardangehäuse nennenswert abgespeckt hat.

Einheit in der Vielfalt

Um mit der Modellfamilie die Wünsche einer möglichst breiten Fangemeinde abzudecken, haben die Planer im Triumph-Hauptquartier auch die Tiger 1200 im inzwischen bewährten Triumph-Muster – also in zwei Linien und insgesamt fünf Modellen – aufgesetzt. Alle drei eher straßenorientierten GT-Modelle (GT, GT Pro und GT Explorer) werden unter dem Banner „Ultimate Road Tour“ vermarktet und mit Gussrädern ausgeliefert, wobei vorne 19 Zoll- und hinten 18 Zoll-Felgen montiert sind. Die beiden Rally-Modelle – verbunden mit dem Slogan „True Off-Road Adventure“ – laufen dagegen auf 21/18-Zoll-Kreuzspeichenrädern und bieten sowohl vorne wie hinten mit 220 mm exakt 20 mm Federweg mehr als die GT-Varianten. Ein weiterer sichtbarer Unterscheid ist bei zwei der fünf Modellvarianten auszumachen: Sowohl die GT Explorer als auch die Rally Explorer wuchern mit gewaltigen 30 statt 20 Litern Tankinhalt.

Das neue Herz   

Alle neuen Tiger werden mit dem aus der Speed-Triple bekannten, jedoch eigenständig weiterentwickelten Dreizylindermotor mit 1.160 cm3 bestückt. Der Motor hat – wie übrigens auch das Aggregat in der kleineren Schwester Tiger 900 – keinen gleichmäßigen 120 Grad Hubzapfenversatz an der Kurbelwelle, sondern haut seine 150 PS und 130 Nm in der unregelmäßigen 90/180/90 Zündfolge raus.
Die so genannte T-Plan-Kurbelwelle sorgt nicht nur für die unbändige Kraft des Motors, sondern auch für seine unverwechselbare Charakteristik: Wenn das Triple-Aggregat früher akustisch noch leicht wie ein Turbinen-Triebwerk rüberkam, muss es heute am Ohr den Vergleich zu massiven Zweizylindern
nicht mehr scheuen. Wobei der kernige Sound nicht auf Kosten der Allgemeinverträglichkeit geht. Das Standgeräusch, das für sich genommen wenig Sinn ergibt, aber im Vergleich zu anderen Fahrzeugen als Richtwert dient, liegt bei moderaten 92 dB(A).

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We are family. Die GT-Modelle stehen auf Gussrädern, die Rally-Modelle auf Speichenrädern. Von links nach rechts zu sehen: die GT Pro, die GT Explorer, die Rally Pro und die Rally Explorer. 

Zuhause auf der Straße

Wir hatten Glück. Noch beim Abritt aus dem Hotel drohte laut aller Wetter-Apps Regen. Doch dann fielen an unserem Straßentag geschätzt nur hundert Tropfen – allerdings der besonderen Art: Was der Wind von der Sahara herüberwehte, war gespickt mit mikroskopisch kleinen Sandkörnern, die den Himmel mit einen rötlichen Filter überlagerten. Die Portugiesen in den Bergen nannten es Blutregen.
Ich war dennoch glücklich. Weil ich mit der Tiger 1200 – in Form der GT Pro mit 19 Zoll-Vorderrad und der Rally Explorer mit dem 21er Reifen – das richtige Motorrad für diesen Tag fuhr. Ein wunderbarer Arbeitsplatz. Der Sitz ist bei allen Modellen in zwei Höhen verstellbar und liegt zwischen 850 mm (GT) und 895 mm (Rally). Der Lenker ist genau so breit, wie man ihn braucht. Windschutz: Super, auch während der Fahrt mit einer Hand in verschiedenen Höhen verstellbar. Einfach aufsitzen, starten, Gang einlegen, bollern lassen: Zuhause angekommen.
Und egal, in welcher Variante die Tiger 1200 unter Dir rollt, es ist immer genügend Druck selbst aus tiefen Drehzahlbereichen und im hohen Gang da. Die Tiger hat nicht den unbändigen Boxer-Drang, aber in jeder Fahrlage Power satt anzubieten. Der Motor kann einfach alles, sowohl locker cruisen, tieftourig arbeiten und im Schleichgang durch die Serpentinen schlurfen, als auch unter Druck und Drehzahl richtig austeilen und die schnellen Befehle des Quickshifters klaglos schlucken. Das Gefühl fürs Vorderrad ist bei allen Modellen top, speziell im Sattel der 21-Zoll-Modelle kommt richtiges Kurvenabenteuer-Feeling auf. Der durchschnittliche Verbrauch dürfte je nach Gangart zwischen 5 und 6 Liter/100 km liegen.
Der Rest der Tiger passt herrlich zum Motor. Das Chassis ist so gut, dass es über uns Normalo-Piloten und unsere Kurvenambitionen nicht mal anfängt zu lächeln. Die Metzeler Tourance- und Karoo-Bereifung kommen bei weitem nicht an ihre Grenzen. Auch die neue Trilink-Schwinge tut genau das, was sie soll: Ihren Job und weiter nicht auffallen. Auch die Bremsen sind über jeden Zweifel erhaben; vorne arbeiten Brembo-Stylema Monoblock Radialsättel mit zwei 320-Millimeter Scheiben, hinten kommt eine 282-Millimeter-Scheibe zum Einsatz.
Der einzige, spürbare Schwachpunkt: Der neue Kardan im abgespeckten Gehäuse. Gegen den ist grundsätzlich nichts einzuwenden, doch bei allen Maschinen, die ich gefahren bin, waren mehr oder weniger schwache Lastwechsel-Reaktionen beim Angasen zu spüren. Selbst bei den Versuchen, mit der Gashand extrem vorsichtig zu agieren: Einen kleinen Schlag und leichtes Geruckel gab es immer. Ich gehe davon aus, dass sich Triumph dieser Unpässlichkeit noch annimmt, bevor die ersten Fahrzeug im April zu den deutschen Händlern kommen. Wir waren auf Fahrzeugen der Vorserie unterwegs.

Die Tiger kann auch dreckig

Apropos Kardan: Die 1200 Rally ist aktuell die einzige Reise-Enduro mit Kardan und einem 21-Zoll-Vorderrad auf dem Markt. Das giert natürlich nach Gelände – und den zweiten Fahrtag hatte Triumph bei der Wim Motors Academy arrangiert, einer Art Disneyland für ambitionierte Geländefreunde. Wer endlose Tracks durch unwegsames und staubiges Hinterland sucht, die sich nach Regenfällen in ein Schlammparadies verwandeln, wird dort fündig.
Kurz gesagt: Die Tiger Rally, richtig ausgerüstet mit Speicherädern, längeren Federwegen und den von Triumph frei gegebenen und grobstolligen Michelin Anakee Wild mit niedrigem Reifendruck, ist jetzt das richtige Motorrad für dieses Terrain. Der Knieschluss passt auch im Stehen, mit einer zusätzlichen Lenkererhöhung von vielleicht 2 cm auch für Fahrer über 180 cm Größe. Die Fahrzeugtaille ist wunderbar schmal. Wenn die Triumph damit mal ins Rollen kommt, verschwindet die Vierteltonne Gewicht erstaunlich spurlos. Gepaart mit dem fein justierten Off-Road-ABS – oder im Off-Road Pro Modus ohne ABS – ist die Bremsleistung auch im schnellen Gelände immer ausreichend.
Laufen mag die Tiger ohnehin; das Fahrwerk schluckt die vergeblichen Bemühungen, die neuen, schwer verbesserten Tiger-Geländefähigkeiten an ihre Grenzen zu bringen, ohne Mucken weg. So was nennt man neue Offroad-Souveränität – die zusammen mit der klasse Fahreigenschaft auf der Straße auf das pralle Guthaben-Konto einzahlt, das Triumph mit der neuen Tiger 1200 angelegt hat.
Man wird damit die GS, an der sich die Tiger messen soll, nicht vom Thron stoßen. Aber verstecken muss man sich auch nicht, man hat jetzt richtige Krallen. Chapeau, Hinckley!

Wo bitte gehts hier lang?

Schon beim bescheidenen Modell-Update im Jahr 2017 war das Elek-tronikpaket von Triumph der Hit und Garant für schnellen Durchblick und schnelles Fortkommen. Die Menüsteuerung bleibt uns grundsätzlich erhalten und ist wie damals weiterhin ein Quantensprung in Sachen Bedienkomfort. Das liegt an den logischen Menüs und am kleinen Joystick an der linken Armatur, über den sich die Fahrzeugeinstellung rasch und einfach personalisieren lässt. Hier gibt die Tiger bereitwillig Pfötchen.
Alles Weitere regeln die ziemlich perfekten Vorjustierungen ab Werk: Basis des sorgenfreien Tourens und der Ausflüge in die Badlands ist das semiaktive Fahrwerk von Showa, das sich selbstständig auf Beladungsänderungen – sprich Gewichte, Gepäck, Sozius – einstellt. Alle Modellvarianten sind damit ausgerüstet. Je nach Modell sind weiter bis zu sechs Fahrmodi (Rain, Road, Sport, Offroad, Off-Road Pro sowie der frei programmierbare Rider) verfügbar. Der Rest ist gleichzeitig Standard, da bleibt kaum ein Wunsch offen: Kurven-ABS, Keyless Ride, Quickshifter, LEDs überall, hinterleuchtete Armaturen, Anfahrhilfe am Berg (außer beim Modell GT). Der hintere, radargestützte Totwinkel-Assistent ist exklusiv bei den beiden Explorer-Modellen verbaut. Wenn doch etwas fehlen sollte; es gibt ein umfangreiches Technik- und Reisezubehör.
Wo die Tiger etwas abfällt, ist die Verbindung zwischen der auf der Connectivity-App laufenden Navigation, basierend auf Google Maps, und dem 7-Zoll-Bildschirm. Größe und Pixeldichte des Displays würden es durchaus zulassen, die Google-Karte ins Sichtfeld zu spiegeln, doch bisher belässt es Triumph bei einer simplen Pfeilanzeige. Displays in Konkurrenzfahrzeugen im gleichen Segment zeigen nicht nur Karten auf Wunsch vollflächig an, manche sind zusätzlich als Touchscreen ausgelegt. Dafür gibt es einen Minuspunkt.

Fallert Achern Team

Mit Sepiafilter: Der Autor unterwegs mit der GT Pro durch eine mit Saharastaub geschwängerte Landschaft.

Fallert Achern Team

Ready for Explore: Die voll aufgerödelte Tiger 1200 Rally Explorer schreit geradezu nach purem Abenteuer.

Die Qual der Wahl

Triumph setzt bei den fünf Modellen auf ein ähnliches Farbschema wie bei der Tiger 900; die GT (ab 17.750 Euro) gibt es nur in Snowdonia White. Die GT Pro (ab 19.950 Euro) und die GT Explorer (ab 21.450 Euro) teilen sich Lucerne Blue, Sapphire Black und Snodonia White. Die beiden Rally Modelle Pro (ab 20.950 Euro) und Explorer (ab 22.450 Euro) sind in Sapphire Black, Snowdonia White und einzig im auffälligen Matt Khaki mit weißem Rahmen zu haben.
Wer Lust hat, kann sich ja gerne schonmal auf der Triumphseite seine ganz persönliche Tiger zusammenkonfigurieren.

Fotos: Triumph

Über den AUTOR

JOCHEN VORFELDER

Lebt und arbeitet in Hamburg. Der Freie Autor schreibt seit Jahrzehnten über Technik- und Umweltthemen für Fachzeitschriften, Motorradmagazine, G+J-Publikationen und Spiegel Online. Er betreut die Social Media-Kanäle mehrerer Unternehmen und betreibt seinen eigenen Motorrad-PageFlow-Blog.

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