Mehr als Wortspielerei
Die Älteren unter uns kennen sie sicherlich noch, die italienischen Motorräder und Kleinkrafträder von Moto Morini, die bekanntesten Modelle mit diversen Hubräumen waren die Corsaro, die Granpasso und die 3½ (Tre e mezzo). Gerade die kleine Corsaro (Corsarino) mit 48 Kubik Hubraum sieht man heute noch öfter bei den klassischen „Fuffzigerle-Treffen“.
Moto Morini wurde 1937 von Alfonso Morini in Bologna gegründet. In der Nachkriegszeit war Morini mit Zweitaktern im Motorsport erfolgreich. So erschien 1953 die erste Viertakt-Version mit Straßenzulassung: die 175 Turismo. 1969 starb Firmengründer Alfonso Morini und seine Tochter Gabriella übernahm die Geschicke des Unternehmens. In der Folge wurde immer wieder an der Motortechnik gefeilt und weiterentwickelt. Anfang der Siebzigerjahre wurde die TREEMEZZO vorgestellt. 1986 übernahmen die Gebrüder Castiglioni, die seinerzeit auch Cagiva, Ducati und Husqvarna besaßen, Moto Morini. 1991 wurde die Produktion der Morini-Motorräder eingestellt und die Marke verschwand gänzlich vom Markt, bis 1999 Motori Franco Morini (ein Inhaber dieser Firma ist Maurizio Morini, ein Neffe von Alfonso Morini) die Markenrechte erwarb. 2004 wurden die Modelle NOVEEMEZZO und die Corsaro 1200 vorgestellt. Vier Jahre später erschien mit der Granpasso 1200 eine Reiseenduro. 2009 ging Moto Morini in den Konkurs. Seniori Capotosti und Jannuzzelli ersteigerten 2011 Moto Morini und erweiterten das Modellportfolio unter anderem um die Rebello 1200. 2018 wurde Moto Morini von der chinesischen Zhongneng Vehicle Group übernommen. Moto Morini bleibt aber weiterhin designed & erprobt in Italy im Firmensitz in Trivolzio bei Pavia in der Lombardei.
Bei der Moto Morini Seiemmezzo STR haben die italienische Designer wieder ganze Arbeit geleistet.
Auf das Adventure-Bike X-Cape im Jahr 2022 folgen nun zwei weitere Portfolio-Ergänzungen von Moto Morini: Die 6½. Zwei Varianten stehen zur Wahl. Die STR (steht für Street) und die SCR (steht für Scrambler). Die italienisch ausgesprochene Namensbezeichnung SEI E MEZZO (sechseinhalb) haben die Morini-Leute mit einem kleinen Wortspiel versehen: SEIEMMEZZO. Identisch ausgesprochen, aber zusammen geschrieben und mit zwei M garniert. Die zwei M stehen, wer hätte das gedacht, für Moto Morini.
Ich durfte Anfang April bei strahlendem Sonnenschein, aber bei durchaus kühlen Temperaturen um die maximal 10 Grad, die Variante STR ausgiebig fahren. Die Seiemmezzo gefällt durch ihr kompaktes, modernes Retro-Design. Kennzeichen und Schmutzfänger sind mitfedernd an der Aluschwinge montiert. Kunststoffblenden unterhalb des Motors verbergen zum Teil die Krümmer. Die STR und die SCR werden beide vom gleichen Triebwerk befeuert – einem 649-Kubik-Reihentwin mit 61 PS (bei 8.250 Umdrehungen) und einem maximalen Drehmoment von 54 Nm (bei 7.000 U/min). Der Motor basiert auf dem der bekannt zuverlässigen Kawasaki ER6 und wird in China beim Morini-Eigner Zhongneng Vehicle Group gefertigt.
Das Sechsganggetriebe lässt sich butterweich schalten. Untertouriges Fahren mag die Sechseinhalb nicht so sehr. Am wohlsten fühlt sich die 6½ im Drehzahlbereich ab 2.500. Bei Beschleunigungen aus dem vierten Gang beweist die Seiemmezzo überraschende Spritzigkeit. Durchaus angenehm und gut auch für fremde Ohren ist der sonore Sound der Auspuffanlage. Beim Sprint darf es auch gerne mal etwas rotzig sein. Das eher weniger aussagekräftige Standgeräusch liegt bei 92 Dezibel. Hiermit ist man in manchen Gegenden mit Dezibelbeschränkung in jedem Fall fein raus.
Sehr schön aufgeräumt und puristisch designed ist das Cockpit. Das Zündschloss liegt vor der Gabelbrücke und verhindert – wie bei manchen Motorrädern – das Gefummel, um den Schlüssel in das Zündschloss zu stecken.
Sehr schmuck: die verwundenen Krümmer.
Dezenter, untenliegender Sammler mit Auspuff.
Die Brembos beißen bei Bedarf kräftig zu.
Schönes kreisrundes Tagfahrlicht.
Sitzbank mit 6½-Logo. Das Rücklicht hätte auch größer sein können.
Das Federbein ist mehrfach verstellbar und stammt aus dem Hause Kayaba.
Das 5-Zoll-TFT-Farbdisplay hat eine matte Oberfläche und ist auch bei direkter Sonneneinstrahlung noch gut ablesbar.
Ausgestattet mit LED-Technik sorgt der vordere Scheinwerfer für eine gute Lichtausbeute. Das kreisrunde Tagfahrlicht ist sehr gefällig. Minimalismus herrscht am Heck: das Rücklicht ist quasi am hinteren Ende der Sitzbank integriert und fällt für meinen Geschmack etwas zu klein aus.
Die Bremsanlage kommt aus dem Hause Brembo und wartet vorne mit zwei 298- mm-Scheiben sowie hinten mit einer 255er-Scheibe auf, die die rund 200 Kilogramm schwere Morini sicher zum Stand bringt. ABS ist selbstverständlich auch an Bord und wird von Bosch geliefert, auch die Einspritzung stammt aus dem Hause Bosch. Die Dämpfung übernehmen Bauteile des japanischen Herstellers Kayaba. Die 43er USD-Gabel und das direkt angelenkte Federbein sind jeweils in Zug- und Druckstufe voll einstellbar. Ich bin während der Testfahrt allerdings mit „Werkseinstellung“ gefahren und habe nichts weiter eingestellt. Im Gegensatz zur X-Cape, die mit dem gleichen Motor bestückt ist, verzichtet Moto Morini bei der Sechseinhalb auf Fahrmodi und Traktionskontrolle.
Die Seiemmezzo ist mit ihrer Sitzhöhe von 810 mm auch für kleinere Menschen gemacht. Für mich mit meinen 186 cm Körpergröße sowieso kein Problem und der gut geschnittene Tankkorpus des 16 Liter fassenden Tanks bietet einen guten, sicheren Knieschluss. Durch die nicht allzu hoch angebrachten Fußrasten sind gerade bei größeren Menschen die Beine nicht so stark angewinkelt, was letztlich eine sehr entspannte Fahrt zulässt.
Detailverliebtheit à la Morini.
Die Seiemmezzo lässt sich butterweich schalten.
Doppel-Aluschwinge am Hinterrad mit etwas dürftigem Kettenschutz.
An Connectivity hat die Sechseinhalb Bluetooth an Bord. Ein Smartphone und zwei Headset-Geräte lassen sich über das TFT-Instruments ganz easy verbinden und verwalten. Zwei Displaylayouts können ausgewählt werden: STR und SCR. Mir persönlich gefällt das SCR-Layout besser – aber das ist reine Geschmacksache.
Die STR die ich fahren durfte, habe ich in Kooperation mit dem Importeur motomondo in Haslach-Schnellingen bei Ilonas Schwarzwald Garage entgegengenommen. Einer großen Einweisung bedarf es nicht – Gas und Bremse ist rechts, der einstellbare Kupplungshebel links. Etwas verwirrend ist auf den ersten Blick der Schalter für das Tagfahr- und Abblendlicht. Das kleine Symbol für das Tagfahrlicht verstehe ich eher als Abblendlicht und umgekehrt. Aber wenn man es weiß …
Dann kann’s ja losgehen. Beim Drehen des Zündschlüssels erscheint, wie inzwischen fast überall üblich, erstmal ein animiertes Signet und das Modell-Logo. Also auf zur ersten Runde durch das Kinzigtal. Die Variante STR fährt auf bewährten Pirelli Angel GT (die Scramblerversion ist mit Pirelli MT60RS bestückt). Die nackte Morini reagiert in den Kurven geschmeidig auf das Drücken am Lenker und auf zusätzlichen Druck auf die Fußraste. So lässt sie sich willig durch das Kinzigtäler Kurveneldorado schwingen. Auf der Schnellstraße zwischen Waldkirch und Freiburg geht es dann auch mal schnell geradeaus. 170 km/h gibt Morini als Höchstgeschwindigkeit aus. Bin ich nicht gefahren, macht auch auf einem Naked-Bike nicht unbedingt Spaß. Aber sprinten kann sie, die 6½. Auf einer einsamen Straße dürfen auch mal die Bremsen zeigen, was sie können. Das ABS greift eher spät ein, dafür aber sehr sicher und intensiv.
Moto Morini gibt den Durchschnittsverbrauch mit 3,8 Litern auf 100 Kilometer an. Nach meinen drei Testtagen waren es eher 3,5 Liter, ich habe die STR aber auch sehr wenig im Stadtverkehr bewegt und bin meist Landstraße gefahren.
Die Einstellung für Tag- oder Abblendlicht ist etwas verwirrend – kein Problem, wenn man es weiß.
Auf der linken Seite lässt sich der Blinkerschalter gut bedienen. Brems- und Kupplungshebel lassen sich verstellen. Die Lenkerarmaturen sind hinterleuchtet.
Zwei Bildschrimlayouts lassen sich einstellen: hier die SCR …
… und hier die STR.
Wesentliche Unterschiede von der Street- zur Scramblerversion
Die SCR besitzt einen anderen Charakter als die STR. Wesentliche Unterschiede machen der höhere und breitere Lenker, was zu einer aufrechteren Sitzposition führt, der höher gelegte Front-Kotflügel und die Drahtspreichenräder mit den stärker profilierten Enduroreifen. Mit der SCR kann man auch mal problemlos über ungeteerte Pisten fahren. Für echtes Offroadfahren ist die SCR nicht gemacht und war auch nicht beabsichtigt. Die golden eloxierte Gabel, die braune Sitzbank, der Mini-Windschild und das verlängerte Heck mit Haltebügeln unterstreichen den Scramblercharakter eindrucksvoll.
Die Scrambler-Version SCR, wenn’s mal bisschen abseits der Straße geht.
Zubehör und Goodies
In Sachen Zubehör haben die Macher von Moto Morini einiges in Planung. Die Haltegriffe der SCR lassen sich auch an der STR verbauen. Stylische Packtaschen aus Leder sind derzeit noch in der Prototypphase und sollen Anfang Mai zur Verfügung stehen. Wer mag, kann auch für die SCR eine schwarze Sitzbank bestellen. Bei GIVI (givishop.de) ist ein Träger für ein Topcase sowie ein Windschild bestellbar. Beim spanischen Zubehörhändler SHAD (shad.es/de/) lassen sich Gepäcklösungen wie Topcase und Seitentaschen inkl. Halterungen ordern. Wer auf Heizgriffe steht, dem seien Griffe von KOSO (kosoeurope.com) – passend für die Seiemmezzo – empfohlen.
Schlussfolgerung
Mit der 6½-Familie ist Moto Morini der Start in die Reihe des mittleren Straßensegments bemerkenswert gelungen. Das italienische, zeitlose Design gefällt genauso wie der quirlige, spaßige Motor und die positiven Fahreigenschaften. Beide Modelle sind selbstverständlich auch als A2-Version erhältlich. Die STR gibts in den Farben Starlight White, Fire Red und Smoky Anthracite ab 7.599 Euro. Die SCR ist ab 7.799 Euro in den matten Farben Navy Green, Blue Storm und Night Black ab sofort erhältlich – jeweils zuzüglich 268 Euro Liefernebenkosten.
Fahrzeugschein Moto Morini Seiemmezzo
Motor: Paralleltwin mit 4 Ventilen
Getriebe: 6 Gang
Antrieb: Kette
Hubraum: 649 ccm
Leistung: 61 PS bei 8.250 U/min.
Drehmoment: 54 Nm bei 7.000 U/min.
Gewicht: 200 kg
Tankinhalt: 16 Liter
Sitzhöhe: 810 mm
Höchstgeschwindigkeit: 170 km/h
Verbrauch: 3,8 Liter auf 100 km
Preis 05/2023: ab 7.599 € zzgl. LNK
Fotos: STR – Guido Schmidt; SCR – Moto Morini
Fahrszenen: Sven Ketz
Über den AUTOR
Guido Schmidt
Inhaber und Verleger des bmm.
Fährt privat eine Honda CB 1100 RS und eine Triumph Rocket 3.
Schreibt überwiegend Reiseberichte, über Regionales, Veranstaltungen und Produkttests.
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