Wohlige Adrenalinstöße

Zu hundert Jahren Boxer fährt BMW noch einmal ganz groß auf. Die R18 hat Charakter, Wucht und Symbolstärke. Doch genau das ist das Problem. 

Lange musste die Fangemeinde der Offenbarung harren; über ein Jahr seit der ersten öffentlichen Studie am Comer See. Doch jetzt, nach viel Stillstand seit März im Spandauer Werk und den Zulieferern ist sie endlich da – die BMW R 18. Präsentiert nicht wie ursprünglich geplant mit ganz großem Kino auf einer Custom-Messe in Texas, sondern eher bescheiden bei BMW Classic in der Moosacher Straße in München.
Doch das Warten hat sich gelohnt. Ein Monument, eine Fahrmaschine in Reinkultur, ein Motor als Skulptur, eine bayrisches Fanal. Jeder der beiden Zylinderköpfe ist weitaus größer als ein Wiesenmaß. Rundum glitzert viel Chrom, aber kein sinnloses Lametta. Zwei Auspufftüten schmiegen sich keck wie Cadillac-Eldorado-Heckflossen ans Hinterrad. Oder sind es symbolische Pfauenfedern?
Egal. Unter der Old School-Optik hat die BMW-Entwicklungsabteilung viel moderne Technik gesteckt und sie fein säuberlich verpackt: Über Qualität muss man hier nicht reden. Die R 18 spricht eher Urinstinkte an: Bei diesem Motorrad kann es nur echte Liebhaber und gehässige Hater geben.  

Hundert Jahre eine Idee

Der Boxer-Motor aus dem Hause BMW kommt inzwischen auf stolze hundert Jahre Entwicklung, sagt Fred Jakobs von BMW Group Classic. Jakobs ist das personifizierte BMW Motorrad-Gedächtnis in dem alten Werkskomplex, der heute das Klassik-Museum beherbergt.
Dort steht auch der Ur-Boxer: Im Frühjahr 1920 wurden die ersten Zweizylinder mit 494 Kubik und 6,5 PS an die Victoria-Werke in Nürnberg geliefert und dort in ein fränkisches Zweirad verbaut. Drei Jahre später, nach Jakobs ausführlichen Annalen im Jahr 1923, kam dann das erste BMW-Motorrad mit Boxer-Motor auf den Markt: die R 32, auch schon vergleichsweise teuer und „Premium“, auch wenn es damals noch nicht so hieß. Jetzt, im Boxer-Jubiläumsjahr, gehen die Bayern den nächsten Schritt: der Big Boxer. 1802 Kubikzentimeter Hubraum. 91 PS und brachiale 158 Newtonmeter. Drehmoment zuhauf. Rückwärtsgang. Aber den braucht man vielleicht auch, wenn man 350 Kilo Motorrad bewegen will.
„Das hohe Gewicht ist kein Problem. Die Kombination aus Kraft und Drehmoment reicht allemal für einen Cruiser. Wir wollten ja diesmal keinen Supersportler bauen,“ sagt Christof Lischka. Er ist der Leiter der Entwicklung bei BMW Motorrad und sichtlich verliebt in die neue R18. „Wir wollten ein Fahrzeug mit einem Boxer haben, der von seiner kraftvollen Entfaltung und seinem Charakter lebt.“
Lischka ist überzeugt davon, dass die Idee des Boxers auch nach hundert Jahren noch trägt. Vielmehr sogar, nämlich massiv neue Freunde gewinnt: „Schauen Sie nur auf unsere Heritage-Linie. Die nineT in all ihren Varianten hat BMW neue Tore geöffnet.“ Gebaut haben die Münchener deshalb einen Motorrad, das voll zur jungen Heritage-Klientel passt und mit seiner Oldtimer-Ausstrahlung gleichzeitig auch die Pensionisten noch einmal an den Start lockt: massive Bleche, runde Formen, stimmige Proportionen, alles in schwarz und Chrom. Legendäre Boxer-Modelle wie die R 32 von 1923 und die R 51/3 aus dem Fünfzigern lassen grüßen. 

Begeisterndes Nippelschrabbeln

Virusbedingt ist die erste Testfahrt mit der R 18 also ein Heimspiel: statt den Südstaaten raus aus München, auf den Nebenstraßen nach Süden Richtung Miesbach, Schliersee und Sudelfeld. Ja sackra, wer braucht bei diesen geilen Strecken bitte Präsentationen in der texanischen Prärie?
Auch die erste Annäherung an die R 18 beeindruckend. Der Big Boxer – scharf geschaltet mit dem Funkschlüssel, frei gegeben nur bei gezogener Kupplung und gestartet per Knopfdruck – grollt und rüttelt am Rohrrahmen wie ein Gorilla im Käfig. Rechts und links bauen die beiden Zylinder wie Conga-Trommeln in die Breite; die Kräfte der beiden Kolben und die bewegten Massen sind enorm. Man hat den Verdacht, dass man die Hände besser am Lenker lässt und die Augen nicht schließt, sonst wähnt man sich mit einem wütenden Bullen im Rodeo-Ring. Erst über 1.200 U/min kehrt relative Laufruhe ein.
Doch die ist nicht immer gewollt und durch das Mapping gesteuert: BMW regelt das Motor- und Fahrverhalten der R 18 über drei elektronische Modi. „Rain“ ist PS-reduziert und eher langweilig – die R 18 wirkt seltsam kastriert. Im „Roll“-Modus geht der Big Boxer kraftvoll und bestimmt, aber zugleich sanft zu Werke. Damit lässt sich wahrlich trefflich und schaltfaul cruisen. Das Elektronikpaket ist komplett; ABS sowieso, abschaltbare Traktionskontrolle, beim Griff in die Vorderbremse wird die hintere Scheibe zugeschaltet.
Richtig zum Leben erweckt wird der Motor allerdings im Modus „Rock“: Die R 18 beißt dann richtig zu. Das amtliche Drehmoment von 158 Nm, das der Motor schon knapp über 2.000 Umdrehungen liefert, liegt dann direkt am Gasgriff. Das macht den Cruiser fast ruppig und aufmüpfig; „Rock“ lässt die schwere Fuhre fast sportlich wirken. Aber sowohl Fahrwerk, mit Doppelschleifen-Stahlrohren, 49 mm Teleskopgabel mit Gabelhülsen und Cantilever-Federbein hinten, als auch die Bremsanlage mit drei Scheiben, können „Rock“ bestens ab. Go, Baby, go – auch wenn grenzwertige Schräglagen ohnehin nicht möglich sind: Die Fußrasten – oder wahlweise Bretter – setzen Cruiser-typisch ziemlich früh und laut schraddelnd auf dem Asphalt auf.
Auch die Sitzposition unterstützt eher das zügige Vorankommen. Weil die beiden Zylinder im Weg stehen, ist eine Fußposition ganz weit vorne nicht drin. Was Cruiser-Traditionalisten wohl als Nachteil und in den USA gar als K.O.-Kriterium empfinden könnten, kommt anderen entgegen: Man sitzt relativ aufrecht, aber dadurch auch aktiver in der 690 mm tiefen Kuhle hinter dem Tank. Davor: nur der fast einen Meter breite Lenker und das aufgeräumte Cockpit mit dem kleinen runden Instrument von der Größe einer Schnupftabakdose.
Im Blick hat man gleich den Zeiger für den Speed, viele der kleinen digitalen Anzeigen wie den Drehzahlmesser braucht man auf der R 18 ohnehin nicht; man ist intuitiv immer im richtigen Gang. Typisches Cruisen halt: Man lässt es zwischen 2.500 und 3.000 Umdrehungen einfach laufen, wer höher dreht, hat die R 18 nicht verstanden. Er bringt sich um den erfüllenden Flow und das Glücksgefühl, den nur ein großvolumiger Motor wie der Big Boxer auslösen kann. Das Dickschiff knurrt und knarrt und schiebt im vierten Gang fast lautlos durch die Ortschaft, bevor die Landstraße zur weiteren Kontemplation über die Beweisführung des ersten Glaubenssatzes der R 18-Entwickler einlädt: „Es gibt nicht Besseres als mehr Hubraum.“
Mein Eindruck nach dem Fahrtag: Auch wenn man kein Cruiser-Fan ist, findet man die R 18 besitzergreifend – wenn nicht sogar grundsympathisch. Sie ist eigen, eigenständig und eigentümlich zugleich und offensichtlich fähig, sowohl Adrenalin und Glückshormone gleichzeitig zu triggern. Es wird viele Leute geben, die mit diesem Motorrad alt und sehr glücklich werden.

Go West, Big Boxer!

Rund ein Viertel der weltweit zugelassenen Motorräder mit mehr als 500 ccm sind Cruiser – und bisher war BMW nach einigen länger zurückliegenden Versuchen auf diesem Weltmarkt nicht positioniert. Besonders in den USA, wo die Cruiser-Zulassungen mit Abstand das stärkste Segment sind, soll die R 18 jetzt Stückzahlen einfahren. Christof Lischka, der Leiter der Entwicklung, sagt dazu: „Natürlich haben wir den typischen amerikanischen Cruiser im Blick und räubern gerne bei sehr tradionsbewußten Käufern.“
Die Konkurrenz heißt also Harley-Davidson und neuerdings wieder Indian – und die Maschinen aus diesen beiden „Made in America“-Schmieden verlassen die Verkaufsräume selten so, wie die zwei Hersteller sie serienmäßig anbieten.
Das Stichwort heißt deshalb Customizing: Denn de facto wird sich keine der „First Edition“-Exemplare und keines der R 18-Derivate, die BMW längst in der Pipeline hat, so bleiben, wie es geliefert wird. Die ersten Zubehörteile kommen schon von BMW selbst, und da ist die Auswahl von Add-Ons wie Tempomat, Heizgriffe, Auspuffanlagen (Vance & Hines), Rädern, Lenkern, Lampen, Windschildern und Sitzen (Mustang) riesig. Für manche Lösungen hat BMW übrigens clever vorgesorgt: Alle hydraulischen und elektrischen Leitungen haben unter dem Cockpit Kupplungstücke, um etwa längere Leitungen für Apehanger oder andere Kabelbäume für Lampen leicht anzuflanschen.
Doch zurück zur Grundversion: Die R 18 – einzig verfügbare Farbe: schwarz  – kann man zum Serienpreis von 22.225 Euro zwar bestellen, aber den massiven Hype um die Maschine hat BMW wohl falsch eingeschätzt: Sie ist nicht lieferbar.
Die „First Edition“ ist nach Aussagen aus dem Hause BMW „bis weit ins Jahr 2021“  hinein verkauft; ein Zweiradfreund in Hamburg hat gerade das Lieferdatum für seine Maschine erhalten: Frühjahr 2022.

 

BMW R18 Sitzbank
BMW R 18 Instrument
BMW R18 Lampenmaske
BMW R18 Ölschauglas
BMW R18 Schriftzug
BMW R18 offene Kardanwelle

Über den AUTOR

JOCHEN VORFELDER

Lebt und arbeitet in Hamburg. Der Freie Autor schreibt seit Jahrzehnten über Technik- und Umweltthemen für Fachzeitschriften, Motorradmagazine, G+J-Publikationen und Spiegel Online. Er betreut die Social Media-Kanäle mehrerer Unternehmen und betreibt seinen eigenen Motorrad-PageFlow-Blog.

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