Nur aus dem oberen Regal
Von Ralf Bielefeldt
Yamaha wertet seine Heritage-Abteilung auf. Und zwar richtig! Die XSR 900 – Flaggschiff der fünf Modelle umfassenden „Faster Sons“-Flotte mit 124, 689 und 890 Kubik – startet komplett überarbeitet und deutlich aufgewertet in die Sommersaison 2022. Vollständig einstellbares Fahrwerk, komplettes Elektronikpaket inklusive Sechs-Achsen-Sensorcluster (IMU), Voll-LED-Scheinwerfer, neues TFT-Display (3,5 Zoll) und dazu mehr Leistung – auf einen Schlag ist der Retro-Renner technologisch voll auf der Höhe der Zeit. Hausintern zieht die XSR 900 mit dem Mittelklasse-Reiseflitzer Tracer 9 und dem „Hyper Naked Bike“ MT-09 gleich. Sämtliche Elektronikzutaten – schräglagenabhängige Traktionskontrolle, Kurven-ABS, Brake Control System (unterstützt bei harten Bremsmanövern) – stammen aus dem oberen Regal und sind allesamt serienmäßig an Bord.
Genspender des elektronischen Assistenzpakets im weitesten Sinne ist die R1. Wie das Superbike verfügt die neue XSR jetzt über Racing-Goodies wie Slide Control für kontrollierbare Drifts und Wheelie Control, um das Vorderrad verlässlich am Boden zu halten und somit bestmögliche Performance zu gewährleisten. Eine ganz schön starke Ansage für eine Retro-Maschine.
Wiedergeburt einer Legende
Unter diesem Motto lassen die Yamaha-Strategen die neue XSR 900 auf die Naked-Bike-Gemeinde los. Neue Federung, neuer Rahmen im ikonischen Stil der legendären Deltabox-Konstruktion aus den 1980ern, neue Sitzbank und dazu mehr Leistung. Damit ist die Marschroute klar: Die ohnehin dynamische XSR 900 wird wie ihre Geschwister moderner, sportlicher, perfekter. Das maximale Drehmoment steigt um sechs Prozent auf 93 Newtonmeter, die jetzt bereits bei 7000 statt 8500 Touren anlegen – also deutlich früher als bislang. Die Leistung des EU5-konformen Dreizylinders legt um vier PS auf jetzt 119 PS zu. Rund 160 Kilometer stehen beim ersten offiziellen Testride im brütend heißen Italien an. Es geht durch die Toskana. Enge, kurvige Nebenstrecken, traumhaft geschwungene Landstraßen, Schleichfahrt durch die Stadt, dazu eine kurze Autobahnetappe.
Das volle Programm
Die neue Motorcharakteristik der XSR 900 gefällt auf Anhieb: Zackig eilt der gedopte „Crossplane“-Dreizylinder (kurz: CP3) durch die sechs Gänge und das breite Drehzahlband. Für optimale Schaltvorgänge in beide Richtungen sorgt das serienmäßige Quick-Shift-System. Den Rest regelt die leichtgängige Anti-Hopping-Kupplung.
Perfect match
Die 119 Pferdestärken beamen die XSR 900 äußerst souverän durch die Landschaft. Es fehlt nie an Leistung; der CP3 hat für alle Fahraufgaben die passende Antwort parat. Satt aus dem Drehzahlkeller, willig um 4.000 bis 5.000 Touren, bissig weiter ab 8.000 Umdrehungen in der Minute. Die Brembo-Zangen greifen bei Bedarf sehr gut dosierbar ein. Vorn sorgen zwei 298er-Scheiben für rabiate Verzögerung, falls nötig; hinten erledigt eine 245-mm-Scheibe verlässlich ihre Arbeit. Der sportliche Sound macht an: nie prollig, immer kernig – eine Wohltat, wenn man Motorräder mag. Der niedrige Testverbrauch überrascht, erst recht ob der durchaus sportlichen Toskana-Runde: 4,6 Liter zeigt der Bordcomputer an – das ist fast ein halber Liter weniger als offiziell angegeben (5,0 l/100 km). Der ein oder andere Kollege landete bei 5,2 bis 5,6 Litern. Auch das ist immer noch voll im Rahmen für ein Sportbike mit 119 PS. Gegenüber dem alten Modell beträgt die Effizienz-Steigerung stolze neun Prozent, meldet Yamaha. Liegt es auch an der aerodynamischeren Sitzposition? Vielleicht. Der Lenker ist jetzt etwas flacher als beim Vorgängermodell. Schwarz gefasste Lenkerendspiegel sollen die niedrige Linie der XSR 900 betonen. Hinter dem Fahrer formt der Sitz einen opulenten Höcker. Die Fußrasten befinden sich jetzt etwas weiter hinten und passen gut zur angenehmen Sitzhöhe (810 mm). Der Knieschluss am Tank ist vorzüglich, auf Gewichtsverlagerungen reagiert die Maschine prompt. Passt alles wie angegossen. Aufsteigen und wohlfühlen ist das Motto der historisch inspirierten Sitzposition. Einzig das Sitzpolster dürfte etwas dicker oder zumindest komfortabler sein. Nach zwei, drei Stunden Fahrt freut sich der Pöter über jede Pause. Aber nun: Wer schön sein will, muss leiden. Das war schon immer so. Die Beifahrerfußrasten samt Ausleger verstecken sich in der Flucht des Rahmens. Die neue Aluminium-Kastenschwinge sorgt für eine hohe Stabilität in Kurven und beim Geradeauslauf. Im Vergleich zum Vorgängermodell ist sie fünfeinhalb Zentimeter länger. Das beschert der Yamaha einen Radstand von kommoden 1495 Millimetern. Fahrverhalten, Performance und Straßenlage des Bikes sind tadellos. Der neue Tank fasst gut 14 Liter. Das reicht für rund 300 Kilometer ohne Tankstopp. Fahrbereit wiegt die XSR 900 nun 193 Kilogramm. Das sind zwei Kilo weniger als beim Vorgängermodell. Zwei Farben stehen zur Wahl: Midnight Black und Legend Blue. Die Preisliste startet bei 10.949 Euro. Im September schiebt Yamaha für A2-Führerscheininhaber die 48-PS-Version hinterher.
Fotos: Yamaha