1.600 Kilometer Kurven nach Schweizer Art

Die Schweiz bietet mit seiner alpenländischen Topografie einen ganz besonderen Reiz für den Motorradfahrer. Vielfältige und abwechslungsreiche Landschaftsformen, die höchsten Alpenpässe versprechen Kurvenspass nicht nur in homöopathischen Dosen sondern bis zu Delirium und auch ich bekenne mich zu diesem Suchtverhalten.
Der Tourismusverband der Schweiz hat sich vor einigen Jahren aufgemacht, die zahlreichen regionalen landschaftlichen und kulturellen Sehenswürdigkeiten im gesamten Land in nahezu allen Kantonen durch die „Grand Tour of Switzerland“ nicht nur virtuell zu beleben sondern auch erfahrbar zu machen. Auf über 1.600 Kilometern summieren sich die Streckenabschnitte, die virtuell animiert in ganz individueller Anpassung gestartet und unterbrochen werden können. Meinen Teilabschnitt der Grand Tour of Switzerland starte ich im wunderschönen Graubünden und bewege mich hierbei den gewundenen Straßenabschnitten entlang bis an den Genfer See im Kanton Waadt. Dieser Bereich entlang des Alpenhauptkamm wird eingerahmt durch die höchsten Alpengipfel und verspricht Pässe und Kurven, namhafte und auch weniger populäre. Bereits bei der Anreise gönne ich mir deutlich über 250 Kilometer feinprofilierteste Kurven auf über 15.000 Höhenmeter. Frisch aufgetankt im zollfreien Samnauntal geht’s über die einsamere südliche Zufahrt mit ihren zwar relativ kurzen, dafür vollkommen unbeleuchteten Tunneln, bei denen selbst ein Moped im zum Glück relativ seltenen Begegnungsverkehr Platzpro-bleme bekommt. Über Scuol, am Schloß Tarasp vorbei und Guarda, welches aus nur etwa 70 Häusern besteht und auf einer sonnigen, felsigen Terrasse auf der Nordseite des Inntals auf einer Höhe von 1.650 Meter liegt, erreiche ich mein Ziel in Zernez im Schweizerischen Nationalpark. Ich bewege mich auf dieser Anfahrt immer zwischen den Silvretta-Gipfeln und den „Engadiner Dolomiten“. Mein Einstieg hätte nicht besser verlaufen können und klar ist, dass die ersten Eindrücke und die Flüssigkeitsverluste dank über 30 Grad Außentemperatur im gepflegten Biergarten neben dem plätschernden Brunnen des Tradtitionshäuser Baer & Post ausgeglichen werden. Am nächsten Morgen fahren wir der bereits aufgegangenen Sonne entgegen, dem Schweizerischen Nationalpark folgend über den 2.149 m hohen Ofenpass in Richtung Müstair. In Santa Maria, der südlichsten Gemeinde des Val Müstair entscheiden wir, unserem Kurvenherz folgend, für die Weiterfahrt über den Umbrailpass mit kurzem Abstecher auf der Passhöhe des Stelvio. Nach einer Tankpause in Livigno über den Berninapass (2.328 m) verlässt uns die Schönwetterfront und fordert mit Regen und Hagelkörnern auf den höher gelegeneren Streckenabschnitten ihren Tribut und unterstreicht damit die Bedeutung alpengerechter Motorradkleidung. Wir fahren durch St. Moritz, berühmt nicht nur bei den „Schönen und Reichen“, ist dieses Dorf seit nahezu 160 Jahren der Inbegriff für den alpinen Wintertourismus und durch die eingerahmte Berglage besonders sonnenverwöhnt. In Thusis, unserem heutigen Ziel, biegen wir auf den Glaspass und kehren zu Fuße des Piz Beverin im gleichnamigen Berggasthof (1.880 m) von Sabine und Willi ein. Gerne hätten wir ein erstes „Stiefelbier“ auf der einladenden Sonnenterasse zu uns genommen, stattdessen gab`s  zumindest erst mal ein wärmendes Getränk nach der heißen Dusche. Der morgendliche Blick aus dem Fenster unseres gemütlichen Zimmers verbreitet gedämpfte Zuversicht in Tschappina, aber nach dem Frühstück keimt die Hoffnung, in südlicher Richtung eine durchlässigere Wolkendecke und aufkeimende Sonnenstrahlen zu finden. Wir durchfahren die aufgrund ihrer steil aufragenden Felswänden eindrucksvolle Viamala Schlucht zwischen Thusis und Zilis. Diese Schlucht ist ein bereits aus dem Mittelalter bekannter Weg (aus dem römischen übersetzt: „schlechter Weg“) in Richtung Süden, der auch heute einer der spektakulärsten Fahrten ermöglicht. Wer die Zeit hat sollte unbedingt den Abstieg (über 350 Stufen) auf die Talsohle anstiefeln. Auf unserer Weiterfahrt erreichen wir mit der 2.066 Meter hohen Passhöhe des San Bernadino nicht nur die europäische Wassergrenze, nein auch die Sprachgrenze deutsch/italienisch und für uns in diesem Moment auch nicht ganz unwichtig, die Wettergrenze. Auf der Abfahrt in den südlichsten und italienischsten Teil der Schweiz klettern die Temperaturen wieder auf Ende 20 ° und wir genießen zu Füßen der historischen Burgen in Bellinzona unser Eis.
Fallert Achern Team

Das kleine Dorf Guarda auf 1.650 Metern • Foto: Andrea Badrutt

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Schöne Grüße aus der Viamala Schlucht.

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Die Viamalaschlucht im Kanton Graubünden bei Zillis Reischen. • Foto: Markus Bühler-Rasom

3 Burgen von Bellinzona
Die drei mittelalterlichen Burgen Castelgrande, Castello Montebello und die Burg Sasso boten in früheren Jahren einerseits Schutz und andererseits auch Abschreckung zugleich, lagen diese doch strategisch eingangs zweier Täler. Heute ziert sich Bellinzona mit diesen besterhaltenen mittelalterlichen Burgen der Schweiz, die zum UNESCO Weltkulturerben gehören. Zwei kurze Abstecher weiter, der italienischen Grenze näherkommend, haben wir uns die beiden gepflegten und sehenswerten Promenaden von Lugano/Luganer See bzw. Locarno am Lago Maggiore verdient, bevor es über den 2.478 Meter hohen Nufenenpass geht. Der Nufenen ist die höchste Passstraße die vollkommen innerhalb der Schweizer Grenzen liegt und verbindet die Kantone Tessin und Wallis. Unser heutiges Etappenziel ist Les Alpes in Fiesch, was wir nach über 20.000 gefahrenen Höhenmetern erreichen.

 

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Bei den drei mittelalterlichen Burgen von Bellinzona im Kanton Tessin ist ein Stopp obligatorisch.

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Das Landwasserviadukt bei Filisur, 65 Meter hoch und 136 Meter lang ist UNESCO-Weltkulturerbe. • Foto: Marcus Gyger

Der höchste Punkt unserer Reise
Nachdem wir am Vortag unseren tiefsten Punkt mit 193 Meter über Meeresspiegel am Ufer des Lago Maggiore erreicht haben, gönnen wir uns heute mit der Luftseilbahn Eggishorn den höchsten Punkt unserer Reise auf die 2.986 Meter liegende Bergstation. Hier am Viewpoint der Grand Tour of Switzerland haben wir einen Blick auf den mit 800 Meter Dicke größten Alpengletscher, den Aletschgletscher. Anschließend fahren wir von Fiesch der Rhône folgend auf ihrem Weg zum Genfer See bis Visp, wo wir in Richtung Zermatt abbiegen. Zermatt ist seit 90 Jahren quasi autofrei und so lassen wir uns ab Täsch mit der Bahn shutteln. Auf der Rückfahrt in Richtung Rhônetal achten wir in Stalden, dass wir den Abzweig für die anstehenden 20 Kehren hinauf auf über 2.000 Meter nicht verpassen, um nach der Abfahrt in Leuk erneut in die Höhe in Richtung Leukerbad (bekannt für zahlreiche Thermalquellen) abzubiegen. Leukerbad ist bereits aus der Römerzeit für seine wohltuenden Thermalquellen bekannt. Heute fließen täglich 3,9 Mio. Liter 51 ° heißen Wasser aus 65 Thermalquellen. Im Verlaufe unserer Weiterfahrt durch das Rhônetal eröffnen sich zunehmend landwirtschaftliche Anbaugebiete für Obst aber auch Weinreben, die vielfach auf terrassierten Hanglagen bewirtschaftet werden. Die Weiterfahrt zu unserem Etappenziel in Saint-Maurice ist quasi wie ein Ausrollen im Rhônetal. Hier überqueren wir auch den Röstigraben. Der Röstigraben, zurückzuführen auf das altdeusche Rezept mit geriebenen Kartoffeln, ist die bildlich besprochene Sprachgrenze zwischen dem östlich gelegenen deutschsprachigem und dem westlich gelegenen französisch sprechenden Teil der Schweiz. Saint-Maurice ist eine kleine Gemeinde mit weniger als 5.000 Einwohnern aber mit langer historischer Bedeutung. Zum einen liegt dieser Ort strategisch günstig im Eingang des Rhônetal und war von daher schon zu Römerzeiten interessant. Nicht nur zahlreiche Ordensgemeinschaften waren und sind in Saint-Maurice ansässig, nein Saint Maurice liegt auch auf der alten Pilgerroute von Canterbury nach Rom, der Via Francigena. Als Reisende in besonderer Mission nutzten wir zur Logis die Hotellerie Franciscaine, ein klösterliches Gemäuer, das nicht nur Pilgern sondern auch der Allgemeinheit zur Übernachtung zur Verfügung steht. Eine Stippvisite in der Abtei und erst Recht ein Besuch der oberhalb Saint-Maurice liegenden „Feengrotte“ mit sehr seltenen Höhlenwasserfall ist allenthalben einen Besuch wert. Mit dem Verlassen der Stadt Saint-Maurice überqueren wir auch die Kantonsgrenze vom Wallis ins Waadt. Ausklang unserer persönlichen Grand Tour of Switzerland ist die Stadt Lausanne am Nordufer des Genfer Sees. Als Alternative für die wunderschöne Anfahrt am Ostufer des Genfer Sees bietet sich ein kleiner kurvenreicher Abstecher über Gstaad im Berner Oberland und die Tallandschaft Pay-d’Enhaut an. In sanften Kurven steigt die Landschaft wieder in den 4-stelligen Höhenbereich an. Neidvoll fällt unser Blick auf hölzerne Chalets, eines schöner als das andere in grandioser Landschaft.
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Auf der Passhöhe San Bernardino verläuft die Sprachgrenze zwischen deutsch und italienisch.

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Ein Blick von der Riffelalp aus auf das berühmte Matterhorn. • Foto: Jan Geerk

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Das Etappenziel in Saint-Maurice ist quasi ein Ausrollen im Rhônetal. Das Schloss in Saint-Maurice markiert den Eingang zum Kanton Wallis.

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Der Viewpoint Paus-d’Enhaut östlich des Genfer Sees – herrlicher Ausblick garantiert, am besten bei einem Stück leckerem Gruyère.

Genfer See / Lac Leman

Der Genfer See ist der größte und wasserreichste Binnensee Mitteleuropas. Die Rhône als östlicher Zufluss, verlässt den See an dessen Südzipfel um später im Mittelmeer zu enden. Das Nordufer zwischen Lausanne und Montreux bezeichnet man auch als Cote d’Azure der Schweiz und das milde Klima vereint die Pflanzenpracht mit einem Blick auf die Savoyer Alpen im Süden. Lausanne liegt am Hang, so dass es die hohe Wahrscheinlichkeit gibt, ein Hotelzimmer mit Seeblick zu buchen, was uns im Best Western plus auch perfekt gelungen ist. Verständlicherweise wurde dieser Abschlussabend mit Verköstigung regionaler Traubenprodukte aufgrund der zahlreichen emotionalen Eindrücke und Erlebnisse etwas später, was angesichts des milden Klimas im Hotelgarten verständlich ist.

Infos. Sprache/Verständigung. Die Vielfältigkeit der Schweiz spiegelt sich auch in der gebräuchlichen Sprache wieder. Im östlichen Teil der Schweiz z. B. in Graubünden ist die Amtssprache deutsch. Im südlichen Teil, z. B. im Tessin, wird überwiegend italienisch gesprochen und im westlichen Teil jenseits des „Röstigrabens“, also Teile des Wallis und im Kanton Waadt, ist die Amtssprache französisch. Die offene und lebensbejahende Art lässt Verständigungsdefizite nicht ansatzweise aufkommen.
Klima/Reisezeit. Das Zeitfenster für eine Motorradreise in der Schweiz sind die Sommermonate. Ab Anfang Juni bis Ende September sollten die meisten Pässe geräumt bzw. schneefrei sein. Tiefer liegende Gegenden, z. B. das Tessin, welches stärker unter mediterranem Einfluss liegt, sind natürlich in einem größeren Zeitfenster mit dem Motorrad zu bereisen.
An- und Abreise. Der Autor als Rheinländer (aus der Region Köln) parkt PKW und Trailer im Süddeutschen an einem Punkt, der sowohl vom Start als auch Zielpunkt der Reise in einer Tagesetappe zu erreichen ist.
Geld/Währung. Da üblicherweise größere Rechnungsbeträge in „Plastik/Kreditkarte“ bezahlt werden, entfällt jegliches Umrechnen zwischen dem Euro und dem Schweizer Franken. Vielerorts, aber nicht überall, wird sogar das Wechselgeld entsprechend in Euro gezahlt. Falls nicht obligatorisch sollte beim Handyempfang darauf geachtet werden, dass man sich außerhalb der EU aufhält.
Unterkunft. Ganz bewusst habe ich mich für ganz unterschiedliche Unterkünfte entschieden. Neben dem Kloster in Saint Maurice, dem Alm/Berggasthof am Piz Severin, gab es auch die beiden Inhaber-geführten Häuser in Zernez und Tiesch und die internationale Kette in Lausanne, die damit die große Bandbreite der vorhandenen Möglichkeiten auf der Tour widerspiegeln. Infos zu Übernachtungsmöglichkeiten gibt es insbesondere auch bei grandtour.myswitzerland.com
Navigation. Die Grand Tour of Switzerland verzichtet nicht gänzlich auf Autobahnen und Schnellstraßen. Aus diesem Grund habe ich meine Streckenplanung mit kurviger.de vorgenommen und als gpx.Datei mit LocusMapPro für mein iPad vorbereitet. Alternativ stand mir noch GoogleMaps zur Verfügung. Auf Autobahnen und mautpflichtige Strecken habe ich verzichtet.
Highlights. Unter den vielen landschaftlichen und kulturellen Höhepunkten ist es schwer das eine Highlight herauszuheben. Da der Aletsch-Gletscher aber endlich ist und der aktuellen Klimaprognose zunehmend schmilzt sollte dieser ViewPoint der Grand Tour of Switzerland ein unbedingtes Muss auf der Reise darstellen.
Schloss Tarasp. Das Schloss Tarasp über dem gleichnamigen Ort stammt aus dem 11. Jahrhundert und ist das imposanteste Schloss im Unterengadin/Graubünden.
Schweizerischer Nationalpark. Der Schweizerische Nationalpark (Gründung 1914) ist mit einer Fläche von 170 Quadratkilometer das größte Naturschutzgebiet der Schweiz, liegt im Engadin/Münstertal und umfasst alpines Gelände sowie Höhenlangen von 1.400 bis 3.200 m ü. M.. Das Nationalparkzentrum informiert in Zernez.
Tages- und Gesamtkilometer. Ohne individueller An- und Abreise kamen mit zu empfehlendem Abstecher zwischen Graubünden und Genfer See innerhalb der 4 Tage 958 Kilometer zusammen. Die einzelnen Etappen findest Du hier als gpx.Datei zum Download.
Es versteht sich von selbst das eine voll beladene Reisemaschine mit zwei Personen hinsichtlich Bereifung und Bremsen allerhöchste Voraussetzungen bei der Beanspruchung einer solchen Reise erfüllen sollte.

Über den AUTOR

Günter Stüsser

Schreibt hauptsächlich Reiseberichte, fährt eine klassisch gelbe BMW 1200 GS. Zu finden sind seine Reiseberichte in diversen Publikationen und auf seiner Facebook-Seite.

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