Was lange währt … wird noch besser als gedacht!
Als Moto Guzzi im Jahre 2008 mit der Stelvio (benannt nach dem Stilfser Joch, dem höchsten Alpenpass Italiens) eine mächtige Reiseenduro auf den Markt brachte, war klar, worauf die Mannen vom Comer See abzielten: Der deutsche Krösus, die BMW GS war das auserkorene Ziel. Mit identischem Hubraum sowie mit Kardan ausgestattet, versuchte man, potentielle Käufer der bayerischen Bestsellerin abzuwerben. Wie wir alle wissen, ist dieses Vorhaben ziemlich misslungen. Obwohl die Italienerin mit ihrem bärigen V2-Antrieb, tadellosen Fahrwerk und großartigen Komfort überzeugen konnte. Im Jahre 2016 wurde die Produktion dann eingestellt.
Hoffnung auf eine Wiederauferstehung durften Fans sich spätestens auf der EICMA 2022 machen, als ein Bike mit dem wohlklingenden Namen angekündigt wurde. Schließlich hatte man mit dem neuen wassergekühlten V100 Mandello Sporttourer ein modernes Motorrad im Programm, welches sich als Organspender für die angekündigte neue Reiseenduro geradezu aufzwängte.
„Bella Macchina“ entfährt es dem Liebhaber schöner Formen, wenn man vor dem neuesten Modell der italienischen Motorradschmiede steht. Stolz steht sie auf ihren 19/17 Zoll Rädern und hebt ihre gelungene Front, geprägt von den serienmäßigen Voll-LED-Scheinwerfern mit Kurvenlicht und dem Guzzi-Adler als Tagfahrlicht, keck gegen den Wind. Dies alles hat schon Stil.
Spätestens beim Blick auf den längs eingebauten V2 ist jedem klar, aus welchen Fabrikhallen das Bike gerollt ist. Nach einem Jahr Dienst in der V100, hat man die kleinen Schwachstellen, die hauptsächlich das etwas hart und knöchern zu schaltende Getriebe betreffen, ausgemerzt und das Aggregat mit 1042 ccm, 115 PS und einem max. Drehmoment von 105 Nm unverändert in die Stelvio-Baureihe übernommen. Natürlich kommen sämtliche Verbesserungen ab diesem Jahr auch der V100 zugute.
Alt fährt jung und jung fährt alt. Links der Autor mit der „jungen“ Stelvio, rechts sein Kumpel mit der „alten“ Stelvio.
Schönes Kontrastspiel: Die Stelvio im Frühling vor den Schneewänden am Hochtannbergpass.
Der 83 cm hohe Pilotensitz ist leicht zu erklimmen und mit dem, nach vorne hin schmal zulaufenden Sitz, ist die schöne Italienerin auch für kleinere Fahrern/-innen eine Versuchung wert. Überhaupt die Ergonomie: bin selten auf einem Motorrad gesessen, wo alles so perfekt gepasst hat! Kniewinkel, Höhe und Breite des Lenkers, Fahrersitz – das Teil schreit geradezu nach langen Urlaubsetappen! Die elektronisch verstellbare Verkleidungsscheibe lässt zudem stets die gewünschten individuelle Windstärke zu. Dann der Druck auf den Anlasserknopf und sofort ist es da, dieses einzigartige Gefühl, welches eine Moto Guzzi schon seit vielen Jahrzehnten so unverwechselbar macht: wie ein Donnergrollen bollert der V2 nach traditioneller Sitte im leicht erhöhten Standgas vor sich hin. Das Standgeräusch von 95 dB verhindert, dass du zum Beutefang der Wegelagerer in diversen Tiroler Tälern wirst.
Untypisch für Guzzi dagegen, dass der Antrieb sofort schön rund läuft und auf den ersten Metern auch kein Ruckeln festzustellen ist. Die 246 kg (fahrfertig) sind gut ausbalanciert und dank des riesigen Lenkeinschlags fällt das Rangieren nicht allzu schwer.
Das KYB-Federbein mit 170 mm Federweg ist in Vorspannung und Zugstufe einstellbar.
Der Guzzi-Adler findet sich stilisiert auch in der Front in Form des Tagfahrlichtes. Der Windschild ist elektrisch in der Höhe verstellbar.
Der Tote-Winkel-Assistent im Radar-Paket (Aufpreis 800 €) meldet sich im Rückspiegel, wenn sich ein Fahrzeug von hinten nähert.
Sehr stimmiges und wunderschön gestaltetes Heck.
Raus aus dem Städtle und sofort rein in die Serpentinenstrecke rauf auf die Schwäbische Alb. Und hier ist das Italo-Bike gleich in seinem Element. Sauber am Gas hängend, verwandelt sich das Reisebike urplötzlich fast schon in einen Sportler. Messerscharf folgt sie der vom Piloten vorgegebenen Linie. Lediglich beim Umlenken in schnellen Wechselkurven merkt man die Mehr-Pfunde zu einem Sportbike. So baut sich schnell eine Art Vertrauensverhältnis auf. Spätestens jetzt würde man der Dame das „Du“ anbieten. Der in unserem Testbike verbaute Quickshifter (gegen Aufpreis) ist eine wahre Pracht und daher auch eine Empfehlung, beim Kauf ein Kreuz bei diesem Extra zu machen. Besonders angenehm: Neben einer guten Portion Sportfeeling ist auch das Thema „Gelassenheit“ bei diesem Motorrad ganz oben anzusiedeln. Ab knapp über 2.000 Touren schiebt es souverän an und ab 3.500 Umdrehungen wechseln dann die Pferde vom Trab in den Galopp. So ist eine relaxte souveräne Fahrweise, nach dem Motto: Lieber ein Gang zu hoch als zu niedrig, stets garantiert. Was Fahrwerk und Motor versprechen, halten auch die Bremsen. Griffig aber nicht zu giftig verrichten die Brembo-Stopper ihren Dienst. Durch die sportliche Grundabstimmung des Fahrwerks bleibt selbst beim beherzten Zug am Bremshebel, alles im stabilen Bereich.
Reiseenduro: Auch bei der Stelvio liegt die Betonung ganz klar auf dem Wort „Reise“. Die Enduro-Eignung fängt bei Schottersträßchen an und hört dann beim leichten Gelände vermutlich auch schon wieder auf. Aber nun mal Hand aufs Herz: wer kauft sich schon eine Reiseenduro und legt auf den zweiten Teil des Namens den größeren Wert?!
Aus den Guzzi-typischen 90 Grad Zylindern schlängeln sich auf beiden Seiten die Auspuffkrümmer.
Auf der bequemen Sitzbank nimmt man gerne Platz – reicht auch für zwei Personen.
Aufgeräumtes Cockpit mit gut ablesbarem 5 Zoll Farbddisplay.
Von der Testfahrt zum Erwerb – das ging bei Jürgen Hägele relativ flott.
Gibt es nun eigentlich gar nichts zu meckern an der „Bella Macchina“? Doch! Die Verkleidungsscheibe scheppert in der ausgefahrenen Position auf schlechter Wegstrecke. Die aufgezogenen Michelin-Reifen nerven zwischen 90 und 110 km/h durch singende Laufgeräusche und die hohe Leerlaufdrehzahl erschwert das Abbiegen bei langsamer Fahrt durch den dadurch vorhandenen Schub.
Fazit: Die Moto Guzzi Stelvio darf getrost als „Großer Wurf“ gelten. Mit Sicherheit die bis dahin beste Moto Guzzi überhaupt! Für 16.499 Euro (17.299 Euro mit Radar-Paket) bekommt man ein Bike, welches durch den Kardanantrieb in seiner Klasse ein Alleinstellungsmerkmal hat. Die Grundausstattung mit Tempomat, fünf individuell konfigurierbaren Modi, elektrisch höhenverstellbarer Scheibe, Voll-LED-Kurvenlicht, Kurven-ABS und 4-stufige Schräglagen-Traktionskontrolle kann sich sehen lassen. Für einen Hauptständer, eine Griff- bzw. Sitzheizung, das Koffersystem oder den Quickshifter ist ein Aufpreis fällig.
Fahrwerksfetischisten müssen sich noch gedulden. Bisher arbeiten in der Stelvio vorne eine 46er USD-Gabel von Sachs und hinten ein KYB-Federbein mit jeweils 170 mm Federweg – beide in Vorspannung und Zugstufe einstellbar. Eine S-Version wie in der V100, mit semiaktiv dämpfenden Öhlins-Fahrwerk, könnte eine Option für die Zukunft sein.
Auf die Frage, für welchen Motorradtyp denn die neue Stelvio in Frage kommen könnte, antworte ich nach den mordsmäßig spaßbringenden Testkilometern: Für alle, denen eine BMW GS zu teuer ist und für diejenigen, denen das herdenmäßige Auftreten der GS zuwider ist. Die ein vollwertig, edel gemachtes und saubequemes Reisebike (auch für 2 Personen) suchen, mit sauberem Kardanantrieb (der auch nicht nach 80.000 Kilometern gewechselt werden muss), welches aber auch mit dem Kapitel „Sport“ einiges anzufangen weiß. Die gutes italienisches Design zu schätzen wissen und die dieses einzigartige Motorenkonzept, welches nur noch aus den Werkshallen in Mandello de Lario kommt, lieben.
Eine Probefahrt der „Schönen“ vom Comer See könnte vom Flirt zur „Grande Amore“ werden.
Die Guzzi zur Probefahrt gibt’s bei Motorradhaus Renner in Eimeldingen und beim Piaggiocenter Riehl in Karlsdorf-Neuthard.
Text: Jürgen Hägele; Fotos: Jürgen Hägele, Marco Gastel & Marco Zamponi, Marco Campelli