Mit Eleganz in den Dreck

Aprilia hat mit der Tuareg 660 ein lautes Ausrufezeichen in der beliebten Adventure-Mittelklasse zwischen 48 und 100 PS gesetzt. Und hat dabei alles richtig gemacht. Die älteren Kollegen – und vor allem deren Langzeitgedächtnis – waren diesmal gefragt. Aprilia stellte die neue Tuareg im November 2021 auf Sardinien vor. Da blieb es natürlich nicht aus, dass beim Feierabendbier gewichtige Fragen aufgeworfen wurden, die weit in die Vergangenheit reichten: „Kannst Du dich noch erinnern? 1991, wie war da genau die Farbkombination? Blau-Weiß-Rot oder Rot-Weiß-Blau?“ Nun, keiner wusste es auf Anhieb genau und im Grunde hat es auch keine Relevanz – doch verblüffend ist die Ähnlichkeit allemal: Die brandneue Tuareg 660 ist optisch die strahlende Enkelin der guten alten Tuareg Wind 600, die Aprilia Anfang der Neunzehnneunziger gebaut hat. Natürlich, die 660 hat mehr Power, mehr Elektronik, das Design ist zeitnah. Doch dass sich Motorräder nach geschlagenen dreißig Jahren vom Gesamteindruck so nahe stehen, kommt selten vor.

Aprilia Tuareg 660 2022

An der Front- und Heckpartie überzeugt in Sachen Beleuchtung eine klare Designsprache.

Aprilia Tuareg 660 2022
Plattform für die Zukunft

Vier, vielleicht sogar schon fünf Jahre ist es her, dass die Entwickler bei Aprilia über einen neuen Zweizylinder-Motor nachdachten. So etwas bricht man nicht übers Knie; vor allem hat man bei der Grundkonzeption eines zukünftigen Triebwerks zunächst die angestammten Märkte im Blick: Der Slogan der Italiener lautet nicht umsonst #bearacer, also sollten zunächst flinke Straßenmotorräder mit Rennmaschinen-Touch verkauft werden. „Aber natürlich hatten wir schon im Hinterkopf, dass in unserer DNA noch ganz andere Traditionen schlummern und andere Zielgruppen zu erreichen sind,“ sagt Diego Arioli, der Chef des Produktmarketings bei Aprilia, „Über einen sportlichen Adventure-Tourer haben wir also fast zwangsläufig nachgedacht.“ Nach dem Straßensportler Aprilia RS 660 (Artikel auf www.bmm.de) und der halbnackten Tuono jetzt also zügig eine geländegängige Aprilia mit dem Plattform-Motor: die Tuareg 660. Angespornt hat die Italiener aus dem Werk in Noale sicher auch der Erfolg anderer relativ neuer Fahrzeuge in der Adventure-Mittelklasse zwischen 48 und 100 PS; da gehen die Verkäufe seit ein, zwei Jahren richtig ab. Bestes Beispiel: Die Ténéré 700 von Yamaha, die 2021 in den deutschen Verkaufs-charts einen imposanten Aufstieg hingelegt und es im Oktober gar auf Platz 3 geschafft hat. An ihr muss man sich, ob man als Hersteller will oder nicht, messen. Geht man rein nach den Zahlen, toppt die Aprilia die Yamaha mit einem Plus von 7 PS. Doch halt: Es könnten durchaus mehr sein. Gegenüber den beiden Geschwistern aus der 660-Familie fällt das Tuareg-Aggregat nämlich auffällig ab. Statt 100 PS (RS 660) oder 95 PS (Tuono 660) kommen bei der Tuareg „nur“ noch 80 PS (9.250 Touren) und 70 Nm (6.500 U/min) am Hinterrad an. Aprilia gibt als Grund an, dass beim Einsatz in der Tuareg statt maximaler Drehfreude und Höchstgeschwindigkeit andere Qualitäten wie z. B. Durchzug bei niedrigen Drehzahlen gefragt seien. Deshalb haben die Aprilia-Ingenieure dem Motor u.a. eine andere Nockenwelle mit zahmeren Steuerzeiten verpasst. Das wirkt: Der Parallel-Twin der Tuareg haut 55 Nm Drehmoment schon bei entspannten 3.200 Umdrehungen raus.

Aufgeweckte Straßengöre

Vorne prägnante LED-Doppelscheinwerfer, hinter dem Windschutz ein 5-Zoll-TFT-Display im angenehm aufgeräumten Cockpit, eine wohlgeformte und nicht zu weiche Sitzbank: Die Tuareg hat einen sehr gediegenen und imposanten Arbeitsplatz. Die Fahrposition ist top: schön breiter Lenker, guter Knieschluss an der schmalen Taille. Das Enduro-Design aus Noale ist sehr eigenständig. Die Aprilia-Adaption hat keinen spitzen Schnabel, keinen der arttypischen hohen Rallye-Vorbauten, alles liegt offen hinter der Scheibe. Tank und Verkleidung breiten sich optisch wie eine abfallende Ebene oder ein liebevoll gedeckter Tisch vor dem Fahrer aus und signalisieren: Es ist angerichtet. Es kann losgehen. Und die Tuareg geht mächtig los. Das Fahrzeug hat mit fast vollem Tank ein für die Klasse vergleichsweise niedriges Leergewicht von 204 kg. Entsprechend sportlich geht es mit den 80 PS voran; schon früh im breiten Drehzahlbereich hat die Aprilia richtig Schmackes. #bearacer ist nicht nur Marketing, sondern Realität: Das Aggregat reagiert ungemein direkt auf jedes Signal vom Ride-by-Wire-Gasgriff, jeder Millimeter Handbewegung wird eins zu eins auf den Asphalt übertragen. Die Tuareg drängt quasi unkontrolliert nach vorne, ist dabei aber leicht im Zaum zu halten: Wenn es sein soll, schlucken Brembo-Bremsanlage und Fahrwerk das massive Momentum trotz grober Pirelli Scorpions und 21 Zoll-Vorderrad locker weg. Man gleitet rasant, aber gleichzeitig souverän wie auf einem Thronsessel dahin und ist zur Überraschung aller Tester vergleichsweise leise: An Bord selbst röhrt die Airbox ab ungefähr 6.000 Umdrehungen immer noch wie ein Höllenschlund, doch fürs Publikum an der Straße gibt die Tuareg sich gesittet. Mit 90 db(A) gemessenem Standgeräusch ist die jüngste Aprilia-Tochter eine weitaus sympathischere Zeitgenossin als ihre Schwester RS 660. Die hat mit 96 db(A) in manchen Gegenden Österreichs schon Fahrverbot. Die Elektronik ist, wie immer bei Aprilia, umfangreich und benutzerfreundlich. Beispiel Fahrmodi: Mit nur einem simplem Tastendruck wählt man sich durch die vier Optionen Explore, Urban, Offroad und dem frei definierbaren Individual. In den ersten drei Einstellungen sind alle verfügbaren elektronischen Stellschrauben wie z. B. Traktionskontrolle, Motorbremse und ABS vorkonfiguriert, aber einzeln nachjustierbar. Im Offroad-Modus ist die Traktionskontrolle, solange sie nicht manuell nachjustiert wird, auf Null gestellt; das ABS am Hinterrad ist komplett deaktiviert. Über den Individual-Modus kann man den Offroad-Einsatz noch eskalieren und auch das ABS am Vorderrad zeitweise abschalten. Die 80 PS Grundleistung bleibt in allen vier Modi-Einstellungen gleich. Auch sehr praktisch: Wie stark Traktionskontrolle und ABS ansprechen, kann während der Fahrt in allen Modi dynamisch über Druck auf die Menütaste und den Schalter für den Tempomat geregelt werden.

Aprilia Tuareg 660
Aprilia Tuareg 660

Der Autor fühlt sich auf der Tuareg wohl. Sowohl im Gelände …

Aprilia Tuareg 660

… als auch beim flinken Ritt über den Asphalt.

Oder doch ein Schmuddelkind?

Dass Aprilia das umfangreiche Elektronikangebot klug durchdacht hat, zeigt sich beim Wechsel von Asphalt auf Schotter: Mit einem Klick und einem Druck auf die Menü-Taste ist die Tuareg bereit fürs Gelände. Und da zeigt die dritte Tochter in der 660er-Familie, dass sie kein Straßenkind ist. Die Tuareg mag edel sein, kann aber auch richtig wühlen. Also los. Am entlegenen Strand schrecken wir einige deutsche Van-Lifer auf, als wir unsere Testrunden ziehen. Tiefer Sand? Check. Läuft. Später ziehen wir ins Landesinnere um, am Vortag hat es dort noch heftig geregnet: Schlammige Passagen, Steine im Weg und ausgewaschene Spurrillen, die Tuareg steckt das klaglos weg. Der Motor ackert wie ein Muli, die Federwege sind mehr als ausreichend. Nur Gelände-Profis schaffen es, das Fahrwerk an seine Grenzen zu bringen. Auch fahrtechnisch anspruchsvolle Passagen meistert die Tuareg ohne zu murren; der kurz untersetzte erste Gang – den gibt es nur im Getriebe der Tuareg – und der tiefe Massenschwerpunkt helfen dabei. Einziges Manko vielleicht, das man dem Fahrzeug abseits befestigter Wege ankreiden könnte: Ihre Stärke auf der Straße, die unbändige Power des Tuareg-Motors, ist auf Geröll oder Sand fast schon kontraproduktiv. Ein Geländemodus mit reduzierbarer PS-Kraft wäre da eine sinnvolle Option. Am Abend, beim vorhin erwähnten Bierchen, taucht dann natürlich die unvermeidliche Frage auf: „Und wie schlägt sie sich nun gegenüber der Ténéré?“ Gut, wenn nicht sogar sehr gut. Auf der Straße fährt die Tuareg der Yamaha davon; die Aprilia hat bei gleichem Gewicht sieben PS mehr, die einen spürbaren Unterschied an Agilität ausmachen. Ob der Tuareg-Zweizylinder die gleiche Standfestigkeit mitbringt und mit den überragenden Kilometerleistungen des Yamaha-CP2-Triebwerks mithalten kann, wird man sehen. Die Aprilia ist definitiv bequemer auf langen Strecken, sie kommt bei 18 Litern Tankvolumen auch über 400 km weit. Abseits des Asphalts hat die Ténéré, die auf der Straße keinesfalls enttäuscht, dagegen Vorteile: Das Paket aus Massenverteilung, Federwegen, kontrollierbarer Kraftentfaltung und idealem Standort hinterm Lenker ist bei der Yamaha einfacher zu beherrschen. Doch im Grunde darf man die Frage nach gut oder noch besser so nicht stellen, denn die beiden Fahrzeuge stammen aus verschiedenen Welten: Die minimalistische Ténéré ist die zeitgenössische Version der Ur-Enduro, mit der sich Weltenbummler und Endurowanderer entspannt auf Reise begeben. Sie verzichtet bewusst auf elektronische Hilfssysteme und ist mit ihrem Charisma und Hang zur Simplizität die eindeutige Wahl für Motorrad-Puristen. Gleichzeitig ist die Ténéré die Kandidatin für ernsthafte Dreckeinsätze. Die Tuareg ist dagegen die Wahl der Waffe, wenn man über längere Reisestrecken nachdenkt und mit schmutzigen Abenteuern im unbekannten Terrain weniger am Hut hat. Sie hat alles an Bord, was elektronisch geht und sowohl schnelle Landstraße als auch Langstrecke kommod macht, sogar einen Tempomaten. Wer das mag, im Herzen ein #racer ist und italienische Grandezza liebt, ist mit der Aprilia bestens bedient und zahlt auch bereitwillig einen höheren Preis.

Aprilia Tuareg 660

Die wohlgeformte, schmale, nicht zu weiche Sitzbank garantiert einen sehr guten Knieschluss.

Aprilia Tuareg 660

Die Brembo-Bremsanlage hält bei Bedarf die Tuareg prächtig im Zaum.

Her mit dem Teil!

Aber welchem? In den Farben Schwarz mit Acid Gold und Schwarz mit Martian Rot kostet die Tuareg 11.990 Euro. Für die blau-rot-weiße Lackierung mit dem Namen Indigo Tagelmust schlägt Aprilia satte 700 Euro drauf; die Preisempfehlung liegt hier bei 12.690 Euro. Damit rangiert die Aprilia im Angebot der Mittelklasse-Enduros preislich über der Yamaha Ténéré 700 (10.374 Euro). Die Tuareg ist auch Führerschein A2-konform auf 35 kW / 48 PS umrüstbar; sie wird seit Dezember 2021 ausgeliefert. Was gibt es im Zubehör? Aprilia hat die Standards wie Sturzbügel, eine Touring- und Offroad-Kofferkollektion und passende Bekleidung im Angebot; an weiteren, sinnvollen Technik-Accessoires wie z. B. einer stabileren Bodenwanne mangelt es im Moment noch. Ob man den 200 Euro teuren Quickshifter – fürs Schalten ohne Kupplung in beide Richtungen – braucht, muss man in einer stillen Minute selbst entscheiden: An der Testmaschine war das Bauteil eher etwas knarzig, bei warmem Motor flutschen die sechs Gänge aber ohne Kupplungsunterstützung widerstandslos rein. Eine Überlegung wert ist die größere Scheibe. Die Serienausführung ist nicht verstellbar; die XXL-Variante ist sehr elegant um die vorderen Blinker herum geformt und bietet von Haus aus mehr Windschutz. Die Tuareg 660 macht es uns nicht leicht: Nach der leichten Straßensportlerin RS 660 und der kleinen nackten Tuono 660 ist die Adventure-Enduro die dritte Tochter der 660er-Familie aus Noale, die betörend und liebenswert ist.

Fotos: Aprilia

Über den AUTOR

JOCHEN VORFELDER

Lebt und arbeitet in Hamburg. Der Freie Autor schreibt seit Jahrzehnten über Technik- und Umweltthemen für Fachzeitschriften, Motorradmagazine, G+J-Publikationen und Spiegel Online. Er betreut die Social Media-Kanäle mehrerer Unternehmen und betreibt seinen eigenen Motorrad-PageFlow-Blog.

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