Vorab einmal: Wir hatten Glück, damals im Oktober 2020. Keine verpixelte Zoom-Konferenz, gerade keine Reisebeschränkung, keine freiwillige Kasernierung: Für die RS 660 hat Aprilia nach Venetien zu einem echten Fahrtest laden können. 
Und schon der erste Eindruck macht deutlich, dass sich der lange Weg über den Brenner runter nach Bassano del Grappa – quasi in halbstündiger Schlagdistanz zum Aprilia-Werk in Noale vor Venedig – gelohnt hat. Auf dem Hotelparkplatz reiht sich wie ein Glockenspiel ein Dutzend glänzender Motorräder; Schwarz-Blau, Lava-Rot und ein Farbton, der an Gold erinnert, aber in der Sonne in ein helles Limetten-Grün changiert, genannt Acid Gold. WOW, super. 
Die farbenfreudige RS 660 macht gleich was her durch die Kampfbemalung und die pointierte, scharf gezeichnete Verkleidung; darunter könnten sich auch mehr als 659 Kubik verstecken. Das soll Mittelklasse sein? Nichts Halbes und nichts Ganzes? Nein, das sieht nach viel mehr aus. Gleichzeitig baut die Maschine sehr kompakt um die schmale Taille: Italiener können einfach elegante Motorräder bauen. 
Das Problem ist also nicht die Optik, sondern der wirtschaftliche Erfolg. Die Zahlen müssen stimmen, besonders über den heimischen Markt hinaus. Während in Deutschland die Piaggio-Tochter eher einen exklusiven Liebhaberkreis begeistert, ist Aprilia in Italien allgegenwärtig: Die kleinen 50er und 125er Flitzer verkaufen sich gut. Nach oben kommt dann allerdings lange nichts; ab Januar 2021 werden in Folge von Euro 5 auch die Modelle Shiver und Dorsoduro mit ihren 900er V2-Motoren eingestellt. Erst jenseits der Ein-Liter-Grenze in der 200 PS-Plus-Premium-Klasse macht Aprilia wieder von sich reden. Furchteinflößende Boliden wie die RSV4 1100 Factory sind allerdings extrem giftig und exklusiv; also nichts für schmale Geldbeutel und Fahranfänger.
Die neue RS 660 soll diese klaffende Lücke in der Aprilia-Modellpalette schließen und die bisher in Noale vernachlässigte Mittelklasse bedienen. 
Der Markt sei jedenfalls da, sagt Diego Arioli, Chef des Produkt Marketings, und verweist auf die Zahlen, auf deren Basis sich Aprilia einen großen Teil vom Mittelklasse-Kuchen erhofft: „Bei Sport-Motorrädern zwischen 550 und 750 Kubik ist der Verkauf in den letzten zehn Jahren um rund 40 Prozent eingebrochen.“ Es gibt keinen erkennbaren Grund, dass dies zwangsläufig so bleiben müsse. Arioli ist überzeugt, dass es nur das richtige Angebot braucht, um dieser brach liegenden Klasse wieder Leben einzuhauchen.

Aprilia RS 660 Modelle

Aprilia will die sportliche Mittelklasse aufmischen. Dafür haben die Italiener mit der RS 660 viel Klasse für eine sportlichen Preis gebaut.

Vielseitiger Kleinsportler

Aprilia setzt bei der Reanimation der Klasse auf einen vielseitigen Allrounder im Renn-Ornat: Die RS 660 mit brandneuem Zweizylindermotor und maximal 100 PS soll die RS-Sport-Gene mitbringen, gleichzeitig auch den Pendler im Stadtverkehr überzeugen und zudem noch langstreckentauglich sein. Ein Sportler für die Bundesjugendspiele also, der bei einer ebenfalls bestellbaren 95 PS-Version zeitweise auf Führerschein A2-konforme 48 PS abgeregelt werden kann – ein erschwinglicher Mittelklasse-Alleskönner im Rennsportkleid also. Ob das alles in ein Fahrzeug passt? Diego Arioli antwortet selbstbewusst: „Probefahren. Dann erübrigt sich die Frage.“

Sittsamer Nachwuchs

Sitzprobe auf der schmalen Sitzbank hinter dem ausladenden Tank und dem Cockpit mit dem kleinen Digital-Display: Passt. Die Ergonomie der RS 660 liegt zwischen einem Supersportler und einer Tourenmaschine; auch später, auf dem 220 Kilometer langen Rundkurs, ist der Ritt auf der Mittelklasse-Aprilia durch die nicht zu tiefen Stummellenker auch für große Fahrer sehr kommod. 
Im Stand ist der Motor angenehm sonor; der Reihen-Zweizylinder brabbelt durch den 270 Grad Hubzapfenversatz erhaben wie ein V2-Motor. Auch zwischen 3.000 und 4.500 Touren halten die 100 PS, die der Motor der Testmaschine liefert, noch relativ still. Geschmeidig und eher unauffällig zieht man dahin. In unteren Drehzahlbereichen kommt die RS 660 dem Versprechen, auch „Alltagsmaschine für Berufspendler“ zu sein, tatsächlich ganz nah. Man rollt tiefenentspannt dahin. Die sechs Gänge werden per Schaltassistent „Aprilia Quick Shift“ eingewippt; die Kupplung wird nur noch zum Anfahren und Stopp gezogen.
Der Motor kann sich also sehr gesittet zeigen. Zur zen-gleichen Fahrt tragen auch die von Aprilia gewählten Premium-Fahrwerk-Komponenten (z.B. voll konfigurierbare 41 mm USD-Gabel, zwei 320 mm Brembo-Bremsscheiben und Pirelli Diablo Rosso Corsa II-Pneus) ihren Teil bei. Schon nach wenigen Kilometern auf den verwinkelten Landstraßen nördlich von Bassano del Grappa zieht man ein erstes Fazit: Aprilia kann Motor und kann Chassis. In langen Kurven malt die RS 660 präzise Linien wie ein ganz scharfer Griffel.

Jugend geht ab

Die Spurtreue lädt ein, eine schnellere Gangart einzulegen und den Motor auch in höheren Drehzahlen hochzuorgeln. Und plötzlich ist alles ganz anders. Spätestens ab 6.000 Umdrehungen lädt die kleine Aprilia dann zum jugendlichen Überschwang ein. Schaut her, röhrt das Aggregat, ich bin der kleine Bruder der Aprilia-Vierzylinder-Kraftpakete, und entsprechend geht die Post liebevoll ab und hoch bis in den Drehzahlbegrenzer bei 11.300 Umdrehungen. Dabei knallt der Zweizylinder eine lineare Power raus, die sich gewaschen hat, und das Leichtgewicht RS 660 (laut Hersteller mit vollem 15-Liter-Tank nur 183 kg) schmeißt sich so agil in die Kurven, dass es eine reine Freude ist. So schreit die kleine Aprilia nach ungebremstem Rennstrecken-Einsatz – und ich wage mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich auch ohne Streckenkilometer einfach behaupte, dass sie sich dort exzellent schlagen wird. 
Der massive Spaßfaktor der RS 660 kommt allerdings zu einem relativ hohen Preis: ziemlich raue Töne. Die RS 660 erfüllt laut Homologierung die Euro 5-Norm und ist somit auch Geräusch-konform. Doch das eingetragene Standgeräusch der RS 660 liegt bei 96 dB(A). Damit reißt die RS 660 um 1 Dezibel die Messlatte, die z.B. in einigen österreichischen Tälern für freie Fahrt angelegt wird. Andere Gegenden werden vermutlich folgen.
Vom eigentlichen Fahrgeräusch ganz zu schweigen. Bei Vollgas etwa im dritten Gang, ausgedreht bis 10.000 Umdrehungen, haut die RS 660 durch die beiden Auspuffstummel dermaßen auf die Ohren, dass eine Fahrt ohne Ohrenstöpsel nicht zu empfehlen ist. Kann man mögen, muss man aber nicht; ein Affront gegen Anwohner ist es allemal.

Aprilia RS 660 Motor

Der 660er Zweizylinder ist richtig gut gelungen.

Aprilia RS 660 Cockpit

Im Cockpit informiert ein digitales Display über alle Fahrdaten und Modi. 

Aprilia RS 660 Bremsanlage

Vorne beißen 320er Bremboscheiben kräftig zu.

Fallert Achern Team

Sozius? Besser nur bei ganz junger Liebe …

Aprilia RS 660 Federung

Federbasis-Einstellung per Hakenschlüssel.

Plattform für die Zukunft

Trotz dieses Mankos: Die Aprilia RS 660 ist ein überzeugendes, grundfreundliches Komplett-Paket, fähig zu täglichen Fahrten ins Büro, heimisch auf der Landstraße, potent genug für Ausflüge auf die Rennstrecke. Herzstück ist sicher der unfassbar knackige Zweizylinder. 
Doch gleichzeitig glänzt das Fahrzeug mit einer Elektronik-Vollausstattung, die sonst nur Superbikes mitbringen. Die Fahrassistenz basiert dabei auf einer Sechs-Kanal-IMU-Einheit zur Realtime-Interpretation der Fahrdynamik und ist nun wirklich weit mehr als nur „Mittelklasse“: Achtstufige Traktionskontrolle, einstellbare Wheelie- und Engine Brake-Control sowie ein auf drei Level justierbares Kurven-ABS sind vorgewählt abrufbar über drei fertige Fahrprogramme (Commute, Dynamic, Challenge). Zwei weitere Modi (Individual, Time Attack) sind völlig frei konfigurierbar. 
Hinzu kommen Nice-to-Have-Gimmicks wie der Tempomat und der Quickshifter in beide Richtungen, sowie die Möglichkeit, die Schaltfolge für den Renneinsatz auf den Kopf zu stellen. Das funktioniert zum einen mechanisch durch eine andere Position des Gestänges an der Schaltwalze und elektronisch durch ein kostenpflichtiges Software-Update für den Blibber beim Händler. 
Auch die Lichtanlage an der RS 660 ist Hightech. Wenn der Fahrer hart in die Bremsen geht, wird dies nach hinten signalisiert: die Warnblinkleuchten flackern kurz auf. Wird es kurz dunkel wie im Tunnel oder bricht die Dämmerung herein, leiten die Sensoren automatisch den Wechsel zwischen Tagfahr- und Abblendlicht ein. Auch das TFT-Display schaltet dann um. Die hochwertige Licht-Sensorik steuert auch das Kurvenlicht, bei dem in der Dunkelheit zusätzliche LEDs den Radius in Fahrtrichtung ausleuchten.

Aprilia RS 660 Farben

Welche darf es denn sein? Acid Gold, Apex Black oder Lava Red?

Zum echten Kampfpreis! 

Das alles bietet Aprilia zum Kampfpreis von 11.000 Euro inklusive aller Nebenkosten an. Nach vergleichbaren Alternativen muss man lange suchen – wenn man sie in diesem Segment mit gleich hoher Ausstattung überhaupt findet. Aprilia setzt offensichtlich darauf, das Zweizylinder-Aggregat in den kommenden Jahren zur Plattform von weiteren Modellen – hoch wahrscheinlich sind z.B. eine nackte Tuono 660, eine Scrambler oder eine Smart-Enduro Tuareg 660 – zu machen und damit ordentliche, kostendeckende Stückzahlen zu generieren. 
Schon jetzt decken die preisgleichen Farben der RS 660 eine breite Kundenwelt ab: Apex Black und Lava Red (beide mit roter Felge vorne und schwarzer hinten) sind klassische Aprilia-Rennsport-Outfits, Lava Red greift mit blauem Tank frühe 1990er Retro-Farben auf. Dagegen sehr modern und eine bei Herstellern eher seltene Wahl ist die bereits erwähnte Limetten-Version Acid Gold mit zwei leuchtroten Felgen. Die RS 660 – mit zusätzlichen Angeboten aus dem Zubehör-Sortiment – steht bereits bei den Aprilia-Händlern. Keine Frage: Anschauen und, sobald möglich, auch probefahren!

Fotos: Aprilia

In Sachen Ohren blind

Präsentationen sind ja immer spannend. Man trifft auch auf die Jungs und Mädels aus dem Werk und versteht, wie unterschiedlich
sie ticken: Beispiel Aprilia. Beispiel Lärmpegel. Für die Motorenentwickler aus Noale zeugt das akustische Inferno bei hohen
Drehzahlen lediglich von der perfekten Lösung eines technisches Problems: Ist RS 660 – der Motor standfest und Euro 5-konform –
geil, alles gut. Im Marketing geht man – und da steht Aprilia als Hersteller nicht alleine da – über den Krach gerne schweigend
hinweg und stellt sich taub: Ach, so lange wie wir es dürfen und sich keiner beschwert …
Und die Planer beim Zubehör hätten sogar gerne noch etwas lauter: Wem die Brülltüte, die serienmäßig unter die RS 660
geschraubt wird, nicht reicht, der kann sich den obligatorischen Akrapovic gegen nicht kleines Geld bestellen. Viel leiser – hüstel –
wird er wohl nicht sein, aber jedes Zubrot-Geschäft aus den Aftersales ist willkommen. Warum denkt man nicht mal in eine
andere Richtung? Bei Aprilia, aber auch den anderen Herstellern? Warum wird nicht mit viel Lametta auch ein Auspufftopf
angeboten, der die Dezibel merkbar reduziert, auch auf die Gefahr hin, dass das Motorrad fünf Prozent Leistung verliert?
Will keiner, kauft keiner? Hört mir auf, das hat nur noch keiner probiert. Ich kann mit dem gleichen Recht behaupten,
dass es da draußen einen Markt für leisere Fahrzeuge gibt.
Oder mal weiter gedacht: Welcher Hersteller profiliert sich als „First of Class“ mit einem echten Urban-Fahrmodus, bei dem per
simplem Knopfdruck die PS-Zahl samt des Lärms auf ein wirkliches innerstädtisches Niveau reduziert wird? Für die akustische Schleichfahrt bei Tempo 30 reichen 30 PS locker von Ortsschild zu Ortsschild. So macht man sich Freunde unter den Anwohnern
und baut dem Gesetzgeber vor.
Jochen Vorfelder

Über den AUTOR

JOCHEN VORFELDER

Lebt und arbeitet in Hamburg. Der Freie Autor schreibt seit Jahrzehnten über Technik- und Umweltthemen für Fachzeitschriften, Motorradmagazine, G+J-Publikationen und Spiegel Online. Er betreut die Social Media-Kanäle mehrerer Unternehmen und betreibt seinen eigenen Motorrad-PageFlow-Blog.

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