Mecklenburgische Ostseeküste

Darf’s ein bisschen Meer sein? Die zerklüftete Küstenlandschaft zwischen den Hafenstädten Travemünde und Stralsund bietet Motorradreisenden viel maritimes Flair, ein nahezu menschenleeres Hinterland, sowie ein wenig bekanntes Münch-Mekka.

Schulhoferinnerungen: Wer sie hatte, war der Gewinner – die Münch Mammut galt als unschlagbare Trumpfkarte im Motorräder-Quartett, das wir als Schüler in jeder großen Pause spielten. Heute, schon mit einem Auge auf die Rente schielend, stehen wir in der Rezeption des Ostsee-Gutshauses vor gleich drei dieser Über-Bikes. Frühmorgendliches Kaiserwetter setzt unserem Staunen und Bewundern ein Ende und lockt hinaus in die mecklenburgische Küstenregion. Ein schmales Teerband windet sich durch stille Dörfer und grüne Wiesen, über die sich ein weiter Himmel wölbt. Auf dem Weg ins Seebad Rerik schiebt sich eine glitzernde Wasserfläche ins Blickfeld, das sogenannte Salzhaff. Die Halbinsel Wustrow im Norden und Boiensdorfer Werder im Süden umschließen das flache und bei Surfern beliebte Gewässer fast vollständig und trennen es vom offenen Meer. Für ein paar Kilometer lösen auch wir uns von Wind und Wellen und treiben unsere Maschinen ins Binnenland, um von Kröpelin aus einen kurvenreichen Ritt über den bewaldeten Höhenzug Kühlung anzutreten. Die Ausläufer reichen bis zum küstennahen Bastorfer Signalberg, auf dem der kleinste deutsche Leuchtturm vor Hannibal, einer gefährlichen Sandbank in der Wismarbucht warnt. Nur ein paar Schaltvorgänge trennen den Lichtwinzling von der längsten Strandpromenade der Republik in Mecklenburgs größtem Seebad Kühlungsborn. Eine ganz besondere Duftnote aus Meeresbrise und Sonnenöl dringt durchs geöffnete Visier in unsere Helme, als wir unweit des Strandes zwischen historischen Villen auf ebenso betagte Gleise stoßen. Auf ihnen rumpelt „Molli“, wie die dampfbetriebene Schmalspurbahn liebevoll genannt wird, seit 1886 zwischen den Bädern und dem Binnenland. Schon hundert Jahre vorher wurde im benachbarten Heiligendamm der Begriff „Sommerfrische am Meer“ geboren, als der mecklenburgische Adel dort höchstpersönlich in die Fluten stieg und damit die gesundheitsfördernde Badekultur einläutete. Nach rund 15 Kilometern und 40 Minuten Fahrtzeit wird die schnaufende und qualmende Bimmelbahn in Bad Doberan eintreffen.

Fallert Achern Team

Eine Laune der Natur: Zwei Halbinseln umschließen das flache Salzhaff fast vollständig und trennen es von der offenen Ostsee.

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Der Kleine mit der roten Mütze: Der Bastorfer Leuchtturm warnt Seefahrer vor der gefährlichen Sandbank Hannibal in der Wismarbucht.

Vom nahen Bahnhof aus, wo „Molli“ gerade mit Wasser und Kohlen versorgt wird, folgen wir der Ausschilderung „Schwaan“ weiter ins Landesinnere, nun darf auch mal der höchste Gang mitspielen. Hinter Hanstorf biegen wir rechts ab und pfeilen durch die dünnbesiedelte Landschaft parallel zur Küste in Richtung Wismar, bis uns ein leicht zu übersehender Hinweis auf das Schloss Gamehl spontan die Anker werfen lässt. Am Ende einer unscheinbaren Seitenstraße verbirgt sich ein im neogotischen Stil errichtetes Herrenhaus, das man nicht versäumen darf. Während sich rund um Wismar Autobahnen, Schienenstränge, Bundesstraßen und Hochspannungsmasten drängen, erreichen wir auf allerkleinsten Asphaltstreifen das Dorf Mecklenburg, dessen Besiedelung und Befestigung um 1.000 von großer Bedeutung und namensprägend für die gesamte Region war. Nördlich des langgezogenen Tressower Sees geleitet uns eine bildschöne Pappelallee an die stark frequentierte B 105. Wohl wissend, dass uns diese langweilige Verkehrsader auf den nächsten 25 Kilometern keine echte Freude bereiten wird, schwenken wir ein und zischen nach Dassow. Dort wartet eine über Jahrzehnte vernachlässigte Nebenstrecke, die uns kurvenreich am Dassower See vorbei nach Pötenitz ins ehemalige Niemandsland der innerdeutschen Grenze transportiert.
Wir tauchen in den Klützer Winkel ab, wo schroffe Steilküsten, einsame Strände und duftende Rapsfelder um unsere Gunst als Zuschauer buhlen. Mittendrin, aber nur wenige hundert Meter von der Ostsee entfernt, liegt das Schloss Groß Schwansee. Das Herzstück des Schlossguts bildet das klassizistische Gutsgebäude aus dem Jahr 1745. Dass die Region gar nicht so flach ist, spüren wir kurz darauf am Aussichtspunkt Hoher Schönberg: Stolze 89 Meter über dem Meeresspiegel präsentiert sich uns das unvergessliche Panorama der Mecklenburger Bucht, wo am Horizont Wasser und Himmel eins werden. Mehr springend als rollend überwinden wir anschließend das Klützer Kopfsteinpflaster und gelangen zur denkmalgeschützten Windmühle. An längst vergangene Glanzzeiten erinnert Schloss Bothmer: Mitte des 18. Jahrhunderts nach ausländischen Vorbildern erbaut, gilt das weitläufige Ensemble aus Gebäuden, Park und Wassergraben als größte erhaltene Barockanlage Mecklenburg-Vorpommerns.
Fast schon mit den Reifen im kühlen Nass, bummeln wir kurz darauf an der Bucht Wohlenberger Wiek entlang. Ein menschenleerer weißer Sandstrand geht ins flache türkisfarbene Wasser über und lässt, etwas Phantasie vorausgesetzt, Karibikflair aufkommen. Mit reichlich Schwung wetzen wir durch die Kurven, bis wir in Wismars historischer Altstadt die Motoren abstellen. Früh dem Handelsbund der Hanse beigetreten, blühte die Hafenstadt im Spätmittelalter auf. Während die mächtigen Türme der stolzen Kirchen St. Nikolai, St. Marien und St. Georgen nebenbei als wichtige Seezeichen fungierten, glänzten rund um den riesigen Marktplatz Bürgerhäuser mit prachtvollen Treppengiebeln. Als die Versorgung der Bewohner mit sauberem Trinkwasser zum Problem wurde, veranlassten die Stadtoberen um 1600 den Bau der sogenannten Wasserkunst, ein im Renaissancestil errichtetes Brunnenhaus, das später zum Wahrzeichen Wismars avancierte. Beim Streifzug vom Markt ans Meer fallen uns hier und dort übergroße, bunt bemalte Schwedenköpfe auf, die einst hölzerne Markierungen der Hafeneinfahrt schmückten, denn nach dem Dreißigjährigen Krieg kam der Ort 1648 unter schwedische Herrschaft, die bis 1803 andauerte. 

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Mal Richtig Dampf machen: Die Bäderbahn Molli geht auf die Reise von Bad Doberan an die nicht weit entfernte Ostseeküste.

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Beim Klabautermann: Nicht nur Leichtmatrosen und Badewannenkapitäne treffen sich am Timmendorfer Hafen der Insel Poel.

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Abseits der Hauptstraße: Einst als Herrenhaus östlich der Hansestadt Wismar errichtet, glänzt Schloss Gamehl heute im neogotischen Stil.

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Wohltuende Stille: Abseits der Hauptstraßen versteckt sich Schloss Groß Schwansee im stillen Klützer Winkel.

An Backbord glitzert die Wismarbucht, an Steuerbord ist der Ostseearm Breitling zum Greifen nahe, dazwischen verbindet ein schmaler Damm die bei Urlaubern beliebte Insel Poel mit dem Festland. Eine steife Brise rüttelt ordentlich am Helm, als wir an Pferdekoppeln, Salzwiesen und Schilfgürteln vorbei, Mecklenburgs drittgrößtes Eiland ansteuern. Windschiefe Bäume säumen die verwinkelte Chaussee nach Timmendorf. Nach nur wenigen Schritten lassen wir uns dort mit leckeren Fischbrötchen unterm Leuchtturm nieder. Vor uns glucksen Wellen gegen die Kaimauer, über uns segeln Möwen im Wind – das Leben kann schön sein. Viel zu schnell weicht die Idylle dem Entsetzen, als wir bald darauf am benachbarten Schwarzen Busch die Seitenständer ausklappen. Unter einem dichten Blätterdach erinnert die Cap-Arkona-Gedenkstätte an eine Tragödie in den letzten Kriegstagen 1945: In der Lübecker Bucht lagen mehrere Passagierdampfer vor Anker, vollgestopft mit Tausenden KZ-Häftlingen. Von alliierten Fliegern für deutsche Truppentransporter gehalten, wurden die Schiffe angegriffen und versenkt. Die an den Stränden der Insel angespülten Leichen fanden auf dem Kirchdorfer Friedhof die letzte Ruhe. Von dort aus treten wir den Heimweg an und nehmen eine mit herrlichem Baumbestand gesegnete Strecke unter die Räder, die unsere volle Aufmerksamkeit verlangt, weil es verdammt eng und kurvig zugeht. Beim Stopp am 54 Meter aufragenden Scharberg können wir nicht nur das angerenzende Salzhaff in voller Ausdehnung bewundern, sondern auch schon das Ostseegutshaus erspähen. 
Am nächsten Morgen besuchen wir erneut Bad Doberan, diesmal die ehemalige Zisterzienserkirche. Weil es in der Region keine Steinbrüche gibt, aber jede Menge Lehm, formte man diesen im Mittelalter zu Ziegeln und brannte sie. Das Münster ist ein besonders schönes Beispiel für die sogenannte Backsteingotik. Rot ist auch einer der beiden Leuchttürme im nahen Seebad Warnemünde, wo die tief im Binnenland entspringende Warnow in die Mecklenburger Bucht fließt. Wir setzen in Windeseile mit einer Fähre zum östlichen Ufer über und passieren die ausgedehnte Rostocker Heide. Kurz darauf gewährt uns das Freilichtmuseum Klockenhagen Einblicke in uralte Katen und Scheunen, zwischen denen laut schnatterndes Federvieh auf sich aufmerksam macht. Mit Dierhagen erreichen wir das “Tor zum Fischland”, das an seiner schmalsten Stelle nur wenige hundert Meter breit ist. Wustrow ist der älteste Ort der Halbinsel. Mit dem Bau der Navigationsschule Mitte des 19. Jahrhunderts erhielt der Kirchturm eine Aussichtsplattform, damit die angehenden Marineoffiziere fleißig den Umgang mit Karte, Kompass und Sextanten üben konnten. Von hier oben aus lassen sich die Halbinsel, das Meer und die Boddenlandschaft prima überblicken. In der Ortsmitte der ehemaligen Künstlerkolonie Ahrenshoop verläuft die Grenze zwischen dem Fischland und dem Darß. Schmucke Häuser aller Preis- und Altersklassen säumen die Straße, bevor wir in den Darßer Urwald eintauchen. Einige sanft geschwungene Kurven geleiten uns durch 6000 Hektar dunklen Mischwald bis nach Prerow. Hier wartet das kleine, aber feine Darß-Museum auf unseren Besuch. Die uralte Seemannskirche am anderen Ende des Ortes stammt aus der Zeit, als der Prerowstrom die Meeresanbindung bildete und eine ansehnliche Flotte im Hafen lag. Wir erreichen den bei Badegästen beliebten Ort Zingst und damit das letzte, gleichnamige Drittel der Halbinsel. 

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Die Perle des Klützer Winkels: Schloss Bothmer bildet mit Park und Wassergraben Mecklenburg-Vorpommerns größte Barockanlage.

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Macht und Moneten: Der Hafen und die Mitgliedschaft im Handelsbund der Hanse begründen Wismars Aufstieg im Spätmittelalter.

Nach dem Besuch der Seebrücke wenden wir uns den Bodden zu: Flache Brackwassergebiete mit Anbindung an die Ostsee. Auf einem schmalen Fahrdamm preschen wir durch Salzwiesen gen Süden. Schilfgürtel und Windflüchter stehen Spalier, Störche und Reiher suchen nach Essbarem. Wenig später taucht die Abzweigung nach Ribnitz-Damgarten auf. Im nahen Bodstedter Hafen treffen wir auf die typischen Zeesenboote, die bis in die Fünfziger Jahre hinein Schleppnetzfischerei in den Bodden betrieben. Heute dienen die Boote mit den rostbraunen Segeln nur noch dem Touristenvergnügen. Diese Seite des Saaler Boddens scheint seit langem in Vergessenheit geraten zu sein – auf der schmalen, mit einigen neckischen Kurven gespickten Landstraße und in den Orten herrscht friedliche Stille. Der an der Recknitzmündung liegende Verkehrsknotenpunkt Ribnitz-Damgarten birgt einen besonderen Schatz: Im Deutschen Bernsteinmuseum kann das Gold der Ostsee bewundert werden. Fossiles Harz, das bei bestimmten Wetterverhältnissen von den Wellen an die hiesigen Strände gespült wird.

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Münch-Mekka-Mecklenburg: Wer auf dicke alte Mammuts abfährt, ist im Ostsee-Gutshaus am Salzhaff gerade richtig.

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Ausweichquartier: Wenn im Ostseegutshaus kein Zimmer mehr frei ist, empfiehlt sich ein gemütlicher Bungalow im angeschlossenen Park, das Motorrad darf direkt davor geparkt werden.

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Münch Giganten-Treffen beim Ostsee Gutshaus in Klein Strömkendorf immer Ende Juni.

Im großen Bogen umrunden wir die Hansestadt Rostock und erreichen das Ostsee-Gutshaus. Wir müssen die Hausherrin Marita Gronau nicht lange bitten, uns ihre verborgenen Mammut-Schätze zu zeigen: Neben drei Elektro-Münchs stehen die vom Ingenieur Thomas Petsch persönlich gefahrene Münch Mammut 2000 und der legendäre Prototyp. Ab 2001 sollten 250 Exemplare des stärksten und schnellsten Serienmotorrades gebaut und für je 86.000 Euro verkauft werden. Gerade mal 15 wurden gefertigt, bevor man nur ein Jahr später die Unsummen verschlingende Produktion einstellte und das Mammut schlafen schickte (detaillierter Bericht siehe auch bmm-Ausgabe 07-2018). Apropos: Wer die Nacht mit einer echten Münch verbringen möchte, sollte die Motorradsuite unter www.ostseegutshaus.de buchen. 
Mehr Informationen beim Verband Mecklenburgischer Ostseebäder e. V., Konrad-Zuse-Straße 2, 18057 Hansestadt Rostock, www.ostseeferien.de

Text und Fotos: Frank Sachau