Von Franken nach Thüringen

Bei Sonnenschein fährt schließlich jeder: Trotz unsicherer Wetterlage mit dem Motorrad auf Patrouille entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs zwischen Main, Thüringer Wald und Rhön. Plötzlich ist er da – der kleine Schweinehund auf meiner linken Schulter! Perfide wiederholt der fiese Wicht die wenig optimistische Wetterprognose und rät mir angesichts 50-prozentiger Niederschlagswahrscheinlichkeit doch lieber die Annehmlichkeiten des Hotels zu genießen. Hin- und hergerissen schließe ich das Helmvisier und starte meinen Bayernboxer in Richtung Meiningen. Regennasse Geraden und die wolkenverhangene Rhön liegen hinter mir, als ich in weiten Kurven zur ehemaligen innerdeutschen Grenze hinaufschwinge. Bis zur Wiedervereinigung fand zwischen dem unterfränkischen Eußenhausen und dem thüringischen Henneberg der sogenannte „kleine Grenzverkehr“ statt. Beim Betrachten der noch reichlich vorhandenen Sperranlagen überkommt mich leichtes Schaudern, das beim Abbiegen am Heiligen Berg zu einem zarten Grinsen wird, und beim Erreichen des Weilers Einödhausen einem lauten Lachen weicht. Durch die hügelige und menschenleere Landschaft des Grabfeldes, die Herkunft des Namens liegt bis heute im Dunkeln, gelange ich auf schmalem Teer in die ehemalige Residenzstadt Römhild, die mit ihrem schlichten Schloss Bodenständigkeit demonstriert. Himmelwärts geht es dagegen bei der Etappe durch die Gleichberge. An Wald­rändern, Wiesen und Feldern entlang, zwänge ich mich zwischen den markanten und über 600 Meter hohen Kegeln von großem und kleinem Gleichberg hindurch. Die beiden längst erloschenen Vulkane werden in meinen Rückspiegeln immer kleiner, bis ich die Kreisstadt Hildburghausen erreiche, wo ich auf die Werra stoße.Stromaufwärts beschleunige ich auf der B 89 in Richtung Eisfeld, biege aber schon nach wenigen Schaltvorgängen am Bahnübergang von Veilsdorf rechts ab. Eine einfache Landstraße unter den Rädern, überquere ich die noch schmale Werra und taste mich durch das ehemalige Niemandsland des Eisernen Vorhanges ins oberfränkische Heldritt vor. Von dort aus beginnt mein radienreicher Aufstieg an der Hildburghauser Höhe vorbei in die Langen Berge. Auf dem Kamm des über 500 Meter aufragenden Bergrückens verläuft ein mittelstreifenloses Asphaltband, das mir trotz niedriger Wolkendecke tolle Ausblicke auf das Coburger Land gewährt. Nach Passieren des Sendemastes auf der Senningshöhe senkt es sich allzu schnell in mehreren Schleifen ins Lauterbachtal hinab. Durch diese Hintertür betrete ich Coburg, das durch seine hoch über der Stadt aufragende mittelalterliche Festung bekannt ist. Um mein nächstes, deutlich friedvolleres Ziel zu erreichen, scheue ich die mehrspurige B 4 wie der Teufel das Weihwasser. Nicht weit entfernt statte ich der barocken Wallfahrtsbasilika Vierzehnheiligen einen Besuch ab. Kein Geringerer als der berühmte Architekt Balthasar Neumann schuf dieses polarisierende Bauwerk – entweder ist man von der Pracht und Schönheit begeistert – oder wird von Protz und Prunk abgestoßen. Egal, im Inneren des Gotteshauses sind 14 Nothelfer zu entdecken, 14 steinerne Heilige, von denen jeder über besondere Fähigkeiten verfügen soll, dem hilfesuchenden Gläubigen in Krisenzeiten beiseite zu stehen. Wer irdischen Genüssen frönen möchte, findet im Schatten des Gottes—hauses die alte Klosterbrauerei Trunk mit einem urgemütlichen Gastgarten, wo neben frisch gebrautem Gerstensaft auch deftige Kost zu niedrigen Preisen serviert wird.

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Im Niemandsland: In Behrungen konnten zahlreiche Hinterlassenschaften des ehemaligen „antiimperialistischen Schutzwalls“ bis heute überdauern.

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Unpassierbar: Bei einem Fluchtversuch konnten DDR-Grenzer die Straße nach Eußenhausen mit einem massiven Stahlträger abriegeln.

Fallert Achern Team

Die Fränkische Krone: Lage, Größe und Ausstattung verliehen der hoch über der Stadt Coburg aufragenden Festung den besonderen Beinamen.

Fallert Achern Team

Etwas Zeit und bequeme Stiefel dabei? Von Vierzehnheiligen führt ein leicht zu meisternder Wanderweg zum aussichtsreichen Staffelberg hinauf.

Fallert Achern Team

Fast tausendjährige Geschichte: Das im schönsten Barockstil gehaltene, ehemalige Benediktinerkloster Banz thront hoch über dem Maintal.

Glauben und Wissen sind zwei unterschiedliche Dinge: Im benachbarten Bad Staffelstein wurde im 15. Jahrhundert der Rechenkünstler Adam Riese geboren, der als Vater des modernen Rechnens gilt, weil er seine Lehrbücher, was damals unüblich war, in deutscher Sprache verbreiten ließ. Die lebensgroße Bronzefigur, die den Hochbegabten zeigt, finde ich in unmittelbarer Nähe des mit wunderschönem Fachwerk aufwartenden Rathauses. Hoch über dem Ort ragt der markante Staffelberg auf, dessen 539 Meter über dem Meeresspiegel liegendes Hochplateau schon während der Steinzeit Heimat und Zufluchtsort der frühen Franken war. Neueste Ausgrabungen legen den Verdacht nahe, dass hier oben Reste der keltischen Siedlung „Menosgada“ gefunden wurden, die sogar den alten Römern bekannt war. Kaum habe ich den Main überquert, lockt der Besuch des vor fast tausend Jahren gegründeten Benediktinerklosters Banz. Die im schönsten Barockstil gehaltene Anlage thront über dem Maintal und dient heutzutage weltlichen Dingen. Meine Reise zum nächsten Zahlenjongleur punktet gleich doppelt: Landschaftlich eine Augenweide, fahrtechnisch ein Leckerbissen. Viel zu schnell kommt Königsberg im Naturpark Haßberge daher. Am Brunnen der unter Denkmalschutz stehenden historischen Altstadt stoppe ich den Motor und schaue zur Statue des Regiomontanus empor. Unter dem bürgerlichen Namen Johannes Müller erblickte das spätere Genie im 15. Jahrhundert hier das Licht der Welt, stellte schon als junger Bursche seine mathematischen Fähigkeiten unter Beweis, und sorgte für neue Erkenntnisse in Navigation und Astronomie. Im Hintergrund, etwas versteckt, schaut ein kleiner, dickbäuchiger Schwertträger von einer Fassade auf den Marktplatz. Es ist die südlichste Rolandfigur Deutschlands, sie standen im Mittelalter für besondere Privilegien und Freiheiten. Nicht weit vom nördlichsten Zipfel der Haßberge entfernt, konnten in Behrungen zahlreiche Hinterlassenschaften des ehemaligen „antiimperialistischen Schutzwalls“ bis heute erhalten werden und als Mahnmal deutsch-deutscher Geschichte Auskunft darüber geben, wie das DDR-Regime nach Selbstbestimmung und Freiheit trachtende Bürger an der Flucht aus dem Arbeiter- und Bauernstaat hindern wollte. Abends im Hotel angekommen, schaue ich auf meine linke Schulter. Sollte der kleine Schweinehund erscheinen, werde ich ihn mit einer lässigen Handbewegung wegscheuchen – die Freiheit nehme ich mir! Aussichtslos! Im wahrsten Sinne des Wortes. Eine Tour hinauf zum reizvollen Hochrhönring oder dem panoramenreichen Rennsteig im Thüringer Wald, beide bequem vom Hotel erreichbar, kann ich mir heute abschminken. Tiefhängende Wolken hüllen die umliegenden Mittelgebirge in tristes Grau. Da wähle ich doch lieber die goldene Mitte, das Werratal, das die Höhenzüge gleichzeitig trennt und verbindet. Durch eine breite Lücke in Mellrichstadts alter Befestigungsmauer beschleunige ich meine GS auch heute wieder in Richtung Meiningen. Nach wenigen Kilometern erneut im ehemaligen Niemandsland angekommen, bin ich so frei und verlasse dort die breite B 19, um diesmal die Vordere Rhön zu erkunden. Feuchtglänzender Asphalt führt mich an Äckern und Wiesen vorbei, in den verschlafenen Orten riecht es nach Braunkohlenbriketts. Rund um den 751 Meter hohen Gebaberg treffe ich auf Biegungen jeglicher Couleur, bevor ich von Oberkatz an den östlichen Hängen der Rhön ins Werratal hinabschwinge. Der Fluss entspringt nicht weit entfernt im Thüringer Schiefergebirge, schlängelt sich durch Nordhessen, vereinigt sich dann im niedersächsischen Hannoversch Münden mit der Fulda und lässt dadurch die Weser entstehen. Eine Brücke geleitet mich trockenen Fußes ins Zentrum von Wasungen, dort sprudelt ein Narrenbrunnen lustig vor sich hin und unterstreicht den Titel „Stadt der fünf Jahreszeiten“, denn der Ort zählt zu Deutschlands Faschingshochburgen. Weil ich als kühler Norddeutscher mit dem Karneval nichts anfangen kann, treibe ich meinen Bayern-Boxer schon bald stromaufwärts nach Meiningen und statte dort dem Schloss Elisabethenburg und seinen Museumsräumen einen Besuch ab. Die ehemalige Residenz der Herzöge von Sachsen-Meiningen wurde im 17. Jahrhundert erbaut und wird von ausgedehnten Parkanlagen umrahmt, die bis an die Werra reichen.

Fallert Achern Team

Im historischen Ortskern von Schmalkalden vereinigen sich Pfosten, Streben und Riegel zu stattlichem Fachwerk.

Fallert Achern Team

Veredelte Rennpappe vor dem Schloss Elisabethenburg.

Fallert Achern Team

Nur für Fußgänger: Seit Grenzöffnung 1990 trägt der mittelalterliche Werraübergang bei Vacha den Namen „Brücke der Einheit“.

Nach prüfenden Blicken in den Himmel und die Straßenkarte entscheide ich mich für eine Tour entlang der westlichen Ausläufer des Thüringer Waldes. Voller Optimismus verabschiede ich mich vom Wasserlauf und steuere den Weiler Rohr an, um von dort auf halber Höhe nordwärts zu streben. Sattes Grün drängt bis an den grauen Teer vor und begleitet mich bis Herges, wo ich in das Tal der Stille einbiege, das nicht wirklich lautlos daherkommt. Ein leise plätschernder Bach ist namensgebend und weicht bis zum Altmarkt in Schmalkalden nicht von meiner Seite. Als ich die prächtigen Fachwerkbauten rund um den historischen Ortskern bestaune, melden sich plötzlich Erinnerungen an meinen längst vergangenen Geschichtsunterricht: Die vom Theologen Martin Luther ins Leben gerufene Reformation fand nicht nur bei der ausgebeuteten Bevölkerung zahlreiche Anhänger, sondern auch bei liberal eingestellten Adligen. Protestantische Fürsten schlossen sich 1531 zum Schmalkaldischen Bund zusammen, um dem mächtigen Heer des vom Papst unterstützten katholischen Kaisers Karl V. die Stirn zu bieten. Der Kampf um den rechten Glauben tobte zwei Jahre und endete mit der militärischen Niederlage der Reformer. Für einen kurzen Moment blinzelt die Sonne durchs tiefhängende Grau, reißt mich aus meinen Gedanken und lässt Hoffnung auf Wetterbesserung keimen. Wieder im Sattel, folge ich der nächstbesten Ausschilderung nach Trusetal, als jemand das Licht ausschaltet: Mit einer gesunden Mischung aus Vorsicht und Vortrieb taste ich mich durch unzählige blinde Kurven und bin heilfroh, als mich der ausgedehnte Forst kurz vor Trusetal entlässt. Der nahe Wasserfall wurde 1865, als Marketing noch unbekannt war, von cleveren Geschäftsleuten künstlich angelegt, um Reisende anzulocken. Zur gleichen Zeit stieg die High-Society im benachbarten Kurort Bad Liebenstein ab, trank tagsüber Heilwasser und abends Champagner. Wieder an den Wassern der Werra angelangt, umfahre ich Bad Salzungen, das seinen Reichtum der mittelalterlichen Salzgewinnung verdankt und erreiche Vacha, die bunte Stadt vor der Rhön. Hier reizt mich ein Abstecher zur im 14. Jahrhundert errichteten steinernen Bogenbrücke, die mit der Teilung beider deutscher Staaten im Grenzgebiet lag und ungenutzt blieb. Mit der Wiedervereinigung 1990 übernahm der betagte Werraübergang wieder seine ursprüngliche Aufgabe und erhielt zusätzlich den Namen „Brücke der Einheit“. Dunkle Wolken und erste Tropfen mahnen zum Aufbruch. 60 Kilometer bis Mellrichstadt! Der Regen wird stärker. In der Rhön schüttet es wie aus Eimern. Trotzdem: Locker bleiben und ein Liedchen trällern. Auf meiner Hitliste ganz oben steht der Klassiker „I’m singing in the rain“. Und die Aussicht auf einen Saunagang und das Vier-Gänge-Menü im Restaurant des Bio-Hotels Sturm stimmt mich heiter.

Frank Sachau

Hoteltipp:
Bio-Hotel Sturm. Im liebevoll geführten Haus von Matthias und Christa Schulze Dieckhoff beginnt und endet ein Fahrtag, wie man es sich als anspruchsvoller Gast nur wünschen kann: Komfortable Zimmer, aufmerksamer Service, kreative Bio-Küche, schattiger Garten mit Schwimmteich, großzügiger SPA-Bereich, kostenloses WLAN, tolle Tourenvorschläge und eine Wohlfühlecke für das Motorrad. Der Wirt, selbst begeisterter Motorradfahrer, kennt die Gegend wie seine Westentasche.

Bio-Hotel Sturm, Ignaz-Reder-Straße 3
97638 Mellrichstadt, Tel. 09776-81800, www.hotel-sturm.com

Allgemeines:
Zwischen Main, Thüringer Wald und Rhön führt die Reise entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze fast ausschließlich über verkehrsarme
 Nebenstrecken. Mit Ausnahme Coburgs gibt es keine kniffligen Ortsdurchfahrten und keine langweiligen Schnellstraßen, dafür ländliche Idylle pur, unzählige Kurven und Fachwerkhäuser satt. Die bis zu 900 Meter aufragenden Mittelgebirgszüge verfügen über ein dichtes Straßennetz, das zum entspannten Motorradwandern einlädt, wobei große Höhenunterschiede und steile Ortsdurchfahrten gemeistert werden müssen. Die Belagqualitäten und Fahrbahnbreiten sind sehr unterschiedlich. Beide Tagestouren umfassen jeweils 230 Kilometer. Wer über Zeit und bequemes Schuhwerk verfügt, sollte zum aussichtsreichen Staffelberg aufsteigen. 

Tourist-Info:
Tourismusverband Franken e.V.

Wilhelminenstraße 6, 90461 Nürnberg
www.frankentourismus.de

Werratal Touristik e. V.
Kirchplatz 2, 36433 Bad Salzungen
www.werratal.de

Museen:
Freilandmuseum Behrungen

98631 Grabfeld, www.deutsch-deutsches-freilandmuseum.de. Das Areal ist ganztägig und kostenfrei geöffnet

Schloss Elisabethenburg, Schlossplatz 1, 98617 Meiningen
www.meiningermuseen.de
Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr geöffnet.