Mit dem Motorrad vor den östlichen Toren der Bundeshauptstadt unterwegs: Eine facettenreiche Exkursion durch den stillen Oderbruch und die waldreichen Naturparks Barnim und Märkische Schweiz. Deutsche Geschichte zum Anfassen und Wege,v die einen aus dem Sattel hauen.
Heritage steht in großen gelben Lettern auf meinem Motorrad-T-Shirt, das ich am Morgen aus der Gepäckrolle zog und mir überstreifte. Der englische Begriff steht für Vermächtnis oder Erbe. Ohne es zu ahnen, wird mich die Definition die nächsten Tage begleiten. Ein Mammutprojekt wurde begonnen, als der Preußische König Friedrich der Große (1712 – 1786) den Befehl zur Trockenlegung der Sumpflandschaften entlang der Oder befahl. Mitte des 18. Jahrhunderts nahmen eigens beauftragte Deichbauexperten die Arbeit auf. Jenseits der in die Bundeshauptstadt führenden B 1 presche ich durch eine topfebene, menschenleere Gegend, bis sich der markante und unübersehbare Höhenzug Reitweiner Sporn am linken Spiegel ins Bild schiebt. Die wie mit einem Lineal gezogene Allee schickt mich nach Lebus, ans südliche Ende des Oderbruchs. Neugierig, wie ich nun mal bin, taste ich mich über betagtes Pflaster bis an den mächtigen Grenzstrom hinunter, an dessen Ostufer polnische Grenzmarkierungen mit bloßem Auge auszumachen sind. Waren Kurven bisher Mangelware, ändert sich das Bild auf dem Weg nach Seelow völlig. Von Wind und Wetter zerfurchte Baumriesen, an denen noch verblasste weiße Bauchbinden aus DDR-Zeiten zu erkennen sind, säumen den verwinkelten Weg hinauf zu den Seelower Höhen.
Gänsehaut garantiert: Die informativ gestaltete Gedenkstätte Seelower Höhen erinnert eindrucksvoll an die letzten Kriegstage 1945.
Im Grünen: Das von einem schönen Park umgebene Barockschloss Altranft beherbergt das Oderbruchmuseum und ein nettes Café.
Alt aber bewährt: Die Klappbrücke von Niederfinow führt über den Finowkanal, Deutschlands ältester noch in Betrieb befindlicher Kanal.
Echter Kraftprotz: Das Schiffshebewerk in Niederfinow befördert große und kleine Kähne in wenigen Minuten auf 36 Meter Höhe.
Wo heute eine Gedenkstätte thematisch interessierte Besucher informiert, begann Anfang 1945 die Rote Armee den entscheidenden Angriff auf die damalige Reichshauptstadt Berlin. Die Stellungen oberhalb des Oderbruchs wurden von den letzten Wehrmachtsverbänden erbittert verteidigt, der sowjetische Vorstoß kam nicht voran, die Schlacht zog sich über Wochen hin, Zehntausende verloren ihr Leben oder wurden verwundet. Ab Platkow gebe ich mich dem Reiz der Nebenstrecke hin. Schmale Straßen geleiten meinen Bayernboxer und mich durch Wiesen, Weiden und Felder. Inmitten der zahlreichen alten Oderarme stoppe ich im Dorfzentrum von Neutrebbin. Der charismatische Monarch lockte Kolonisten in das fruchtbare Land westlich der Oder, gewährte Steuerfreiheit, schenkte Grund und Boden. Viele Ortsnamen beginnen mit der Vorsilbe „Neu“, die Weiler Beauregard und Croustillier haben unverkennbar französische Wurzeln. Die Bürger Neutrebbins zeigten ihre Dankbarkeit, als sie 1904 zum 150. Jubiläum der Ortsgründung ein Denkmal zu Ehren des Königs aufstellten. Kurioserweise verschwand das Standbild kurz nach Entstehen des Arbeiter- und Bauernstaates und kehrte erst nach der Wende als Nachguss zurück. Den Sozialismus überdauerte auch Schloss Altranft, das sich als dreiflügliger Barockbau in einer weitläufigen Parkanlage verstecken konnte. Sehr zur Freude von Mensch und Maschine stürzt die windungsreiche Straße kurz darauf vom immerhin 100 Meter aufragenden Nordwestrand des Oderbruchs hinunter nach Niederfinow. Der Finowkanal, seines Zeichens Deutschlands älteste, noch in Betrieb befindliche künstliche Wasserstraße, verliert schnell an Bedeutung, als ich ehrfürchtig vor dem grauen Koloss des Schiffshebewerks den Zündschlüssel ziehe. Europas größter Frachtkahn-Fahrstuhl ist Teil des Oder-Havel-Kanals, der Berlin mit der Ostsee verbindet. Der 1934 in Betrieb genommene Schiffs-Lift überwindet in nur wenigen Minuten einen Höhenunterschied von 36 Metern, wird aber nach über achtzig Dienstjahren bald von einem größeren und leistungsfähigeren Nachfolger in den Ruhestand verabschiedet. Die sich anschließende Etappe von Liepe nach Oderberg sorgt für ordentlich Adrenalin, man tut gut daran, die übergroßen Warnschilder zu beherzigen und die gefährliche Kurvenstrecke über den Teufelsberg nicht zu unterschätzen.
Auszeit: Mitten im denkmalgeschützten Kolonistendorf Neulietzegöricke lässt sich herrlich pausieren.
Feierabend! Der markante Verladeturm ist das Wahrzeichen des denkmalgeschützten Kulturhafens Groß Neuendorf an der Oder.
Abseits des Stroms: In Wilhelmsaue versteckt sich die letzte, im Oderbruch erhaltene Bockwindmühle, ein technisches Denkmal.
Gerettet: Der 1905 in Letschin aufgestellte „Alte Fritz“ wurde nach Kriegsende von mutigen Bürgern vor dem Einschmelzen bewahrt.
Im nahen Hohensaaten mündet der Wasserweg in die Oder, ein schwarz-rot-goldener Pfosten markiert die Staatsgrenze, für mich aber das nördliche Ende des Oderbruchs und damit auch einen Wendepunkt meiner heutigen Tour. Auf meinem Trip durch die verschlungenen Wasserarme des stillen Oderbruchs muss das Fahrwerk der GS reichlich einstecken, gefühlt wurde mancher Weg seit Kriegsende nicht ausgebessert. Da kommt ein Halt in Neulietzegöricke gerade recht. 1753 als erstes Kolonistendorf für 47 Familien angelegt, birgt das denkmalgeschützte Fachwerk-Ensemble in seiner Mitte ein uriges Café mit schattigem Gastgarten. Denselben Schutzstatus genießt auch der ein paar Kilometer entfernte Kulturhafen Groß Neuendorf mit seinem markanten Verladeturm, einst geschäftiger Umschlagsplatz, heute gern besuchter Ausflugsort an der Oder. Abseits des träge dahin fließenden Stroms besuche ich in Wilhelmsaue die letzte, im Oderbruch erhaltene Bockwindmühle, bevor ich an einem weiteren Standbild Friedrich des Großen anhalte. 1905 in Letschin errichtet, nach dem Zweiten Weltkrieg von couragierten Bewohnern vor dem Einschmelzen gerettet, kam es erst 1990 wieder ans Tageslicht. Bis 1762 hatte der „Alte Fritz“, wie der Preußenkönig im Volksmund genannt wurde, dem weitverzweigten und kurvenreichen Fluss auf 20 Kilometern Länge ein neues Bett verpasst, 32.500 Hektar fruchtbares Land gewonnen und 50 Dörfer gegründet. Mit dem Werk zufrieden, gab er kund: „Hier habe ich im Frieden eine Provinz erobert, die mir keinen Soldaten gekostet hat“.
Unvergessen: Vor Schloss Neuhardenberg erinnert ein mächtiger Sowjetstern aus Granit an die Gefallenen der Roten Armee.
Klare Linien, einfache Formen: Auch die Schinkel-Kirche in Neuhardenberg erbaute der preußische Stararchitekt im klassizistischen Stil.
Am nächsten Morgen treffe ich auf das unweit gelegene Schloss Neuhardenberg. Ende des 17. Jahrhunderts erbaut, gestaltete der bekannte preußische Baumeister Karl Friedrich Schinkel (1781 – 1841) das ursprünglich barocke Anwesen klassizistisch um. 1823 erhielt das von Schloss, Kirche und Parkanlagen geprägte Ensemble sein heutiges Aussehen. Nach einer Umrundung des südlichen Teils des Naturparks Märkische Schweiz taste ich mich durch die betagten Gassen des Kneippkurortes Buckow zum denkmalgeschützten Brecht-Weigel-Haus vor, das seit 1952 als Sommerwohnsitz des Dramatikers Bertholt Brecht und der Schauspielerin Helene Weigel diente. In den späten Siebzigern zum Museum umgestaltet, schenkt es tiefe Einblicke in das Leben und Wirken des berühmten Künstlerehepaares. Deren Wahl fiel nicht zufällig auf den Ort, der sich malerisch in eine von Mischwäldern, Mooren und Seen geprägte Landschaft einfügt. Kurz nach der Wende erkannten auch staatliche Stellen die Schönheit der Region und gründeten den heutigen Naturpark. In seinem Zentrum Buckow und der für seine hervorragende Wasserqualität bekannte Schermützelsee. Wenig später quetsche ich mich zwischen Strandbad und dem 129 Meter aufragenden Krugberg hindurch und verlasse Brandenburgs kleinsten Naturpark in Richtung Strausberg. In forscher Gangart geht es äußerst kurzweilig durch die sanft gewellte Topographie am langgestreckten Straussee vorbei bis an die B 158. Weil die stur geradeaus führt, biege ich kurz hinter Werneuchen ab und erreiche schon bald Bernau am östlichen Rand der Bundeshauptstadt. Das im Mittelalter hoch geschätzte und von vielen begehrte Bernauer Bier war sicherlich nicht der Grund für den Bau der mächtigen Stadtmauer, die weder vor den Wirren des 30-jährigen Krieges noch vor der Pest schützen konnte. Durch Zäune und Wachmannschaften schirmte sich einst die DDR-Führungsriege in der sogenannten Waldsiedlung bei Wandlitz ab, die ich jenseits der A 11 erreiche. Damit bin ich auch schon im Naturpark Barnim angekommen, der sich an die nordöstlichen Randgebiete Berlins schmiegt. Zwischen Wandlitzer See und Liepnitzsee scheuche ich die GS nordwärts bis zum Flecken Zerpenschleuse, das ich, wie der Name schon vermuten lässt, zwischen verschlungenen Wasserarmen und gut besuchten Marinas entdecke. Hier begegnen sich der Werbellin-Kanal, der Oder-Havel-Kanal und der Finowkanal. Letzterer zählt zu Deutschlands ältesten künstlichen Wasserstraßen.
Erfrischung gefällig? Der Schermützelsee ist der größte der Märkischen Schweiz und für seine hervorragende Wasserqualität bekannt.
Stilvolle Begrüßung: Der ausrangierte sowjetische Jagdbomber Suchoi Su-22 ist am Eingang des Luftfahrtmuseums in Finowfurt zu bestaunen.
Endzeitstimmung: Unter strengster Geheimhaltung errichtete die DDR bei Harnekop einen atombombensicheren Bunker tief unter der Erde.
Unfassbar: Die mehrere Jahrhunderte alte Napoleon-Eiche bei Karlsdorf hat einen beachtlichen Umfang von fast sieben Metern.
Der nach rund 400 Jahren noch immer in Betrieb befindliche, denkmalgeschützte Kanal geleitet mich in die ehemalige Flößerstadt Finowfurt. Weit draußen im Süden versteckt sich das sehenswerte Luftfahrtmuseum. Das ausgedehnte Flugfeld wurde schon von den Luftfahrzeugen des Dritten Reiches und der Sowjetunion genutzt. Die dazugehörigen Hangars beherbergen heute zahlreiche historische Fluggeräte. Weil keine direkte Verbindung in die umliegende Barnimer Heide besteht, mache ich kehrt und nehme von Ruhlsdorf aus eine nicht zu verachtende Nebenstrecke mit wechselnden Landschaftsbildern unter die Räder. Am östlichen Ende des Naturparks quere ich hinter Dannenberg die Bundesstraße 158, umrunde den Semmelberg und lande im Nichts. Ein schmales, mit Kurven aller Art gespicktes Teerband bohrt sich immer tiefer in eine leicht hügelige Waldlandschaft. Hier, am gefühlten Ende der Welt, erwartete die Führung der Nationalen Volksarmee der ehemaligen DDR das nukleare Ende der Welt. Unter strengster Geheimhaltung und völliger Abschottung wurde bei Harnekop ein atombombensicherer Bunker errichtet, um tief unter der Erde den letzten Tag zu überstehen. Ein unscheinbares Schild weist mir den Weg zum Komplex, aneinandergereihte Betonplatten führen weit in einen finsteren Forst hinein. Zurück im freundlich wirkenden Tageslicht, zeige ich der gruseligen Hinterlassenschaft des Kalten Krieges mein Rücklicht und erreiche nach wenigen Schaltvorgängen wieder den Naturpark Märkische Schweiz. An seiner nördlichen Grenze hüpfe ich über die windungsreiche Märkische Höhe und treffe bei Karlsdorf auf die kolossale Napoleon-Eiche. Dieser besondere Baum hat einen beachtlichen Umfang von fast sieben Metern. Durch eine massive Leitplanke von der B 167 getrennt, soll der 300 – 400 Jahre alte Riese noch lange überleben. Ach ja, der kleine Franzose war übrigens nie dort, vielleicht lagerten während der napoleonischen Kriege einige seiner Soldaten in der Nähe und waren für die originelle Namensgebung verantwortlich. Nach rund 30 Kilometern zurück im Hotel, denke ich, dass angesichts der vielen historischen Hinterlassenschaften der Region, das heute getragene T-Shirt erste Wahl war.
Reiseinformationen
Allgemeines: Das Oderbruch ist ein von der Oder durchflossenes knapp 60 km langes und bis zu 20 km breites Gebiet, das deutlich tiefer als seine Umgebung liegt und sich ungefähr zwischen den brandenburgischen Städten Oderberg im Nordwesten und Lebus im Südosten erstreckt. Die Region Oberbarnim zieht sich von Oranienburg im Norden Berlins bis an den Oderbruch und beheimatet den 1998 gegründeten, rund 750 km² Fläche umfassenden Naturpark Barnim und den mit nur 200 km² Fläche wesentlich kleineren Naturpark Märkische Schweiz, der aber schon 1990 ins Leben gerufen wurde. Die Bundesstraßen bieten guten Teer, aber auch Schwerlastverkehr. Die Qualität der überwiegend verkehrsarmen Nebenstrecken ist sehr unterschiedlich bis hin zu buckligem Kopfsteinpflaster. Die Tour ist von Anfängern und alten Hasen problemlos zu meistern.
Streckenlänge: Rund 500 Kilometer
Infos: TMB Tourismus-Marketing Brandenburg • Babelsberger Straße 26 • 14473 Potsdam
www.reiseland-brandenburg.de
Unterkunft: Gasthaus-Pension Wagner • Hauptstraße 67 • 15328 Golzow • Tel. 033472-50296
Das von Familie Wagner geführte Haus verfügt über 16 Zimmer und zwei Ferienwohnungen, die alle grundsolide und gemütlich eingerichtet sind. Die Küche bietet hausgemachte, regionale Speisen, mit Portionen, die auch gute Esser glücklich machen. Danach ist die Terrasse der ideale Ort für den geselligen Tourausklang und einen Sundowner.
www.gasthaus-pension-wagner.de
Über den AUTOR
Frank Sachau
Seit mehr als 30 Jahren ist Frank auf BMW GS-Modellen unterwegs zwischen Dänemark im Norden, der Toskana im Süden, den Pyrenäen im Westen und Polen im Osten. Zwischendurch führten die Reisen immer wieder in die Alpen: Zwischen Wien und Nizza blieb kein namhafter Pass unberührt. Und selbstverständlich kamen auch Deutschlands schönste Flecken unter die Räder.