Fabelhaftes Fahrvergnügen zwischen Dichtung und Wahrheit, Kassel und Knüllwald, Fulda und Werra: Trutzige Burgen und romantische Schlösser prägen jenen Landstrich, in dem einst die Brüder Grimm Märchen sammelten. 

Aus dem Grimmschen Geburtsort Hanau strebt die Deutsche Märchenstraße seit 1975 bis ins norddeutsche Bremen und verbindet märchenhafte Orte mit einigen Lebensstationen der beiden Brüder. Die über lange Zeit in Kassel wirkenden Geschichtensammler siedelten zahlreiche Erzählungen in Nordhessen an. Von der noch jungen Efze, die im Knüllgebirge entspringt, lasse ich mich nach Remsfeld führen und bin schon voll im Thema, als ich vor der dortigen Tourist-Info die Skulptur „Rotkäppchen und der Wolf“ entdecke. Das brave Mädchen, auf dem Weg zur kranken Großmutter, trägt Schwälmer Tracht mit dem so genannten Betzel, der roten Haube, die den auf dem Kopf gebundenen Haarknoten bedeckt. Mit dem Wasserlauf und der Märchenstraße erreiche ich schon bald Homberg/Efze. Im historischen Ortskern verbergen sich malerische Gassen, kunstvolles Fachwerk und am großzügigen Marktplatz zu Füßen der evangelischen Stadtkirche St. Marien die Figuren „Brüderchen und Schwesterchen“, deren fabelhafte Geschichte ebenfalls Einzug in die berühmte Grimmsche Sammlung fand. Dass alles im Fluss ist, wird mir am Harler Berg (392 m) bewusst: Erst mündet die Efze in die Schwalm, und diese nach nur wenigen hundert Metern in die Eder. Durch ihr Tal gelange ich in die Stadt Felsberg, die vom himmelwärts zeigenden „Butterfassturm“, dem schlichten Bergfried der alten Burg, überragt wird. Schwungvoll treibe ich meinen Bayernboxer gen Kassel. Das flüssige Fahren findet dort ein Ende, wo die Schlingen von Eder und Fulda den Rand der Kulturmetropole erreichen. Mit Hilfe des Navis gelange ich problemlos zum beeindruckenden Schloss Wilhelmshöhe, das Ende des 18. Jahrhunderts im Stil des Klassizismus erbaut wurde. Zusammen mit den weiten Grünanlagen des Bergparks feierte das sehenswerte Ensemble 2013 die Anerkennung als UNESCO-Weltkulturerbe. Dank der anfangs freudlosen B 7 finde ich schnell wieder aus der Stadt hinaus. Kaum hat die Bebauungsdichte abgenommen und Mutter Natur die Oberhand gewonnen, folge ich bei Calden dem Hinweisschild zum Schloss Wilhelmstal. Das von einem großzügigen Park umschlossene Anwesen entstand um 1750 und zählt zu Deutschlands schönsten Rokokoschlössern.

Fallert Achern Team

Das clevere Rotkäppchen empfiehlt: Böser Wolf, friss den Autor, da ist deutlich mehr dran, als an der armen alten Großmutter.

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Kassel und die alten Meister: Die Gemäldegalerie von Schloss Wilhelmshöhe zeigt Werke von Rembrandt, Rubens und Dürer.

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Großmütiger Querdenker: Homberg / Efze ist stolz auf den liberalen Landgraf zu Hessen, der Reformation und Bildung förderte.

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Figurprobleme: Der hoch über Felsberg aufragende Bergfried trägt den wenig schmeichelhaften Beinamen „Butterfassturm“.

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Verkehrsknotenpunkt: Das schmucke Hessisch Lichtenau liegt am Schnittpunkt der Deutschen Fachwerk- und Märchenstraße.

Im Weiler Niederlistingen biege ich ab und durchquere den nördlichen Teil des Naturparks Habichtswald. Hinter Volkmarsen treffe ich auf die Twiste, der ich gegen den Strom zur gleichnamigen Talsperre folge. Kaum habe ich die Staumauer passiert, klappe ich vor dem Residenzschloss in Bad Arolsen den Seitenständer aus und staune nicht schlecht: Die von 1710 bis 1728 erbaute Anlage protzt im edlen Barock und weist keinesfalls zufällig Ähnlichkeiten mit dem französischen Versailles auf. Ursprünglich waren die Grafen zu Waldeck im gleichnamigen Schloss über dem Edersee zuhause. Weil das betagte Gemäuer aber nicht mehr dem adligen Lifestyle entsprach, zog man halt um. Nach dreißig Kilometern flotter Gangart werfe ich einen kurzen Blick auf Schloss Waldeck und das unter ihm im Sonnenlicht glitzernde Wasserreservoir. Unten in Affoldern angekommen, schwenke ich auf die schmale Uferstraße ein, die sich windungsreich an den zerklüfteten Stausee schmiegt. Trotz aller Naturschönheiten lasse ich den Tacho nicht aus den Augen, denn die bei Kurvenkratzern beliebte und mit Tempolimit belegte Route wird häufig von mobilen Blitzern überwacht. Nach so viel Beherrschung kommen die Serpentinen hinauf nach Vöhl gerade recht und lassen die Drehzahlmessernadel aufgeregt tanzen. Hier treffe ich erneut auf die Eder, die den Naturpark Kellerwald-Edersee halbkreisförmig umschließt. Bei Schmittlotheim verlasse ich die B 252 und gerate immer tiefer in die ausgedehnten Buchenwälder des dunklen Kellerwalds. Einige dieser Laubbäume können bis zu 300 Jahre alt werden. Als sie das Licht der Welt erblickten, wurde Schloss Friedrichstein im Norden der Stadt Bad Wildungen erbaut. Die hoch über dem Ort aufragende Barockanlage zieht mich magisch an und belohnt mit tollen Ausblicken. Toll anzuschauen soll eine äußerst attraktive Tochter der hier wohnenden Herrscher gewesen sein. War sie vielleicht die Hauptfigur des Grimmschen Märchens „Schneewittchen“? Auf der Suche nach den sieben Zwergen koste ich die traumhaften Nebenstrecken voll aus und verlasse den Naturpark südlich des 675 Meter hohen Wüstegarten. Im nicht weit entfernten Treya begegne ich wieder der bestens bekannten Schwalm, die den Burggraben der barocken Wasserfestung Ziegenhain speist. Während des Dreißigjährigen Krieges wehrte sie zahlreiche Belagerungen ab, doch als ich hinein rolle, schlägt mir keinerlei Widerstand entgegen. Die angrenzenden Ausläufer des Knüllgebirges fordern meine ganze Aufmerksamkeit: Etliche Höhenzüge, die mit Weitblicken glänzen, unzählige Kurven, die an den Reifenflanken knabbern und immer wieder Walddurchfahrten, die lichtlosen Tunneln gleichen. Mittendrin der August-Franke-Turm auf dem erloschenen Vulkan Knüllköpfchen (634 m) mit seinem traumhaften Rundblick in alle Himmelsrichtungen.

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Der erste Eindruck täuscht: Wilhelmstal zählt mit seiner weitläufigen Parkanlage zu Deutschlands schönsten Rokokoschlössern.

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Riesiges Reservoir: Der zerklüftete Edersee ist nicht nur ein Wassersporteldorado, sondern auch ein beliebtester Bikertreff.

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Abgekupfert: Das barocke Residenzschloss in Bad Arolsen weist nicht zufällig viele Ähnlichkeiten mit dem französischen Versailles auf Schneewittchen im Schloss Friedrichstein.

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Barockperle über Bad Wildungen: Kenner vermuten den Ursprung des Grimmschen Märchens Schneewittchen im Schloss Friedrichstein.

Vorsicht Schusswaffengebrauch! Gottseidank sind es nur wärmende Sonnenstrahlen, die auf mich abgeschossen werden, als ich am nächsten Morgen am Rande des Truppenübungsplatzes Schwarzenborn durchs menschenleere Knüllgebirge husche. Während der angenagte Straßenbelag Vibrationen bis in die Lenkerenden schickt, fordert das Kurvenspektrum erhöhte Aufmerksamkeit. Kaum bin ich in Oberaula auf die B 454 abgebogen, setze ich nach nur wenigen Schaltvorgängen vor Gersdorf erneut den Blinker, um auf der geschmeidig fahrbaren Eisenbergstraße dem Himmel ein großes Stückchen näher zu kommen. Auf dem 635 Meter hohen Gipfelplateau des wald- und wasserreichen Mittelgebirges angekommen, bietet der nach einem verdienten Forstmeister benannte Borgmannturm tolle Ausblicke auf Thüringer Wald, Rhön und Vogelsberg. Wieder im Sattel, genieße ich die steil abfallende Eisenbergstraße in voller Länge bis vor die Pforte von Schloss Neuenstein, das auf den Grundmauern einer mittelalterlichen Burg entstanden ist, und deren mächtiger Bergfried bis heute überdauerte. Ich quere kurz darauf die A 7, gelange in Regionen, in denen sich Fuchs und Hase noch persönlich Gute Nacht sagen, umrunde den fast 500 Meter hohen Geiskopf und nehme Kurs auf Ludwigsau an der B 27. Hier begegne ich der aus der Rhön stammenden Fulda und begleite sie ein klitzekleines Stück auf ihrem Weg nach Hannoversch Münden, bis ich am südlichen Rand des Verkehrsknotenpunktes Bebra dem Abzweig nach Nentershausen folge. Außerhalb des Ortes wurde im 14. Jahrhundert die Tannenburg erbaut, um die hier verlaufenden Handelsrouten zu schützen. Ein Rundgang durch die gut erhaltene Festung schenkt mir Einblicke in das Leben der einfachen Knechte und edlen Ritter. Helm auf, Visier zu! Über die Dörfer gelange ich wieder an die B 27, der ich viele Kilometer treu folgen werde. Links der Hohe Meißner, rechts der Schlierbachswald – beide Gebirgszüge sorgen mit den Läufen von Sontra, Netra und Wehre für reichlich Wasser, das sich östlich von Eschwege in die aus dem Thüringer Wald heran strömende Werra ergießt. Die breite Bundesstraße schmiegt sich an die weiten Schleifen des Flusses, über dem sich das neogotische Schloss Rothestein erhebt. Bald darauf erreiche ich die Fachwerk- und Kurstadt Bad Sooden-Allendorf, die von der Werra durchflossen wird. Das Gewässer bildete bis zur Wiedervereinigung die nasse Grenze zur ehemaligen DDR. Wie der Eiserne Vorhang gesichert war, und mit welchen Fahrzeugen die Bewacher unterwegs waren, erkunde ich im nahen Grenzmuseum Schifflersgrund. Wachsamkeit war auch auf der Burg Ludwigstein gefordert, als sie 1415 bei Werleshausen erbaut wurde, um sich gegen die aufdringlichen Nachbarn aus dem Eichsfeld zu wehren.

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Knüllwald-Knüller: Auf dem Gipfelplateau des 635 Meter hohen Eisenbergs sticht der Borgmannturm in den Hessenhimmel.

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Authentisch: Bei einem Rundgang durch die gut erhaltene Tannenburg wird der Besucher in die Welt der Knappen und Ritter versetzt.

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Flucht-Verhinderer: Das Grenzmuseum Schifflersgrund zeigt den umfangreichen Fahr- und Flugzeugpark jenseits des Eisernen Vorhangs.

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Sinneswandel: Einst als Grenzbefestigung erbaut, stehen die Tore der Jugendburg Ludwigstein nun Pfadfindern und Wandervögeln offen.

Fünfhundert Jahre später dem allmählichen Verfall preisgegeben, sorgten erste Jugendgruppen für den Wiederaufbau und die friedliche Nutzung. Heute stehen die Tore der sogenannten Jugendburg allen Pfadfindern und Wandervögeln offen. Ähnlich, und doch ganz anders sieht es am etwas abseits gelegenen Schloss Berlepsch aus, das sich in der nordöstlichsten Ecke Hessens verbirgt: Ebenfalls belagert, erstürmt, niedergebrannt und wiederaufgebaut, wird der Familienbesitz aber seit fünfhundert Jahren stets vom Vater an den Sohn vererbt. Und Schlafsäle sucht man in den historischen Räumen vergebens. Ich quere die Werra ein letztes Mal und verschwinde auf allerkleinsten Straßen im Höhenzug Kaufunger Wald. In den ausgedehnten Forsten zwischen Kleinalmerode und Nieste präsentiert sich mir eine umfangreiche Sammlung unterschiedlichster Kurven und mit dem 446 Meter hohen Umschwang sogar ein waschechter Pass. Immer um das Seelenheil der Untertanen besorgt, ohne dabei das eigene aus den Augen zu verlieren, sorgte der mittelalterliche Adel für die Errichtung zahlreicher Klöster. In Oberkaufungen wurde um 1000 durch kaiserliche Schenkung eine Benediktinerinnen-Abtei gegründet, aber im Zuge der Reformation wieder aufgelöst. Bis heute ragt die mächtige Stiftskirche zum Heiligen Kreuz über dem alten Ortskern auf, um sie herum die mit reichlich Fachwerk versehenen Klosterbauten. Eine nicht minder wechselvolle Geschichte machte auch Schloss Spangenberg durch, das ich nach einem kurzen Sprint über die Bundestraßen 7 und 487 erreiche. Im 13. Jahrhundert auf einem Bergkegel zur Sicherung bedeutender Transportwege erbaut, wurde die Burg später zum Schloss umgestaltet und diente zeitweise sogar als Gefängnis. Ich bleibe auf freiem Fuß und tauche in den Knüllwald ab, dessen verschlungene Straßenführung mich äußerst kurzweilig durch Täler und über Kuppen nach Wallenstein transportiert. Am Ende der dortigen Burgstraße klappe ich den Seitenständer raus, schlüpfe aus den verschwitzten Klamotten und genieße unterhalb der Ruine Wallenstein eine kühle Erfrischung im Schwimmteich des Strandbads No. 1 der Familie Zinn.

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Biken und Baden: Die frei zugängliche Burgruine Wallenstein sorgt für ein märchenhaftes Ambiente am erfrischenden Naturschwimmbad.

Reiseinfos

Die GrimmHeimat NordHessen erstreckt von Bad Karlshafen im Norden, über Eschwege im Osten, Bad Hersfeld im Süden bis nach Willingen im Westen und bietet wenig bekannte Mittelgebirge, verschlungene Wasserläufe und malerische Fachwerkorte. Durch verkehrsarme Nebenstrecken verbundene Schlösser, Burgen und Klöster warten auf ihre Entdecker, jedes historische Bauwerk erzählt seine eigene Geschichte. Die Ende des 18. Jahrhunderts über lange Zeit in Kassel lebenden Brüder Jacob und Wilhelm Grimm sammelten zahlreiche Märchen und siedelten sie in der Region an. Über den Internetauftritt der GrimmHeimat NordHessen (www.grimmheimat.de) lassen sich mehrere Broschüren downloaden oder bestellen. Darunter auch das umfangreiche aber tankrucksackfreundliche Booklet „Burgen & Schlösser“, in dem viele der besuchten Stätten mit allen Details vorgestellt werden.

Übernachtungstipp

Landhotel Zinn
Rund um das bodenständige Gasthaus in Deutschlands Mitte locken weitere abwechslungsreiche Regionen wie Vogelsberg, Hoher Meißner und Kaufunger Wald. Motorradwanderer finden zum Ausklang einer Tagestour Erfrischung im Strandbad No. 1 und Gaumenfreuden im angeschlossenen Bistro.

Landhotel Zinn und Campingplatz Burg Wallenstein
Burgstraße 6  |  34593 Knüllwald-Wallenstein
Tel. 05686-395  |  burgwallenstein.de

Text und Fotos: Frank Sachau

 

Über den AUTOR

Frank Sachau

Seit mehr als 30 Jahren ist Frank auf BMW GS-Modellen unterwegs zwischen Dänemark im Norden, der Toskana im Süden, den Pyrenäen im Westen und Polen im Osten. Zwischendurch führten die Reisen immer wieder in die Alpen: Zwischen Wien und Nizza blieb kein namhafter Pass unberührt. Und selbstverständlich kamen auch Deutschlands schönste Flecken unter die Räder.  

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