Wer wissen möchte, woher umweltfreundliche Energie und sauberes Trinkwasser kommen, schwingt sich in den Motorradsattel, besucht eine Handvoll Talsperren, erklimmt gleich drei Türme und genießt ganz nebenbei grenzenlosen Fahrspaß im Land der tausend Berge.
Mauern können trennen, wie bis vor 34 Jahren die Berliner Mauer. Sie können schützen, wie einst die chinesische Mauer. Aber auch Energie spenden, wenn sie, wie im Sauerland, riesige Wassermassen aufstauen. Unsere Motoren haben noch nicht einmal die Betriebstemperatur erreicht, als wir am Ende des Dumicktetals auf einen Zipfel des zerklüfteten Biggesees treffen. Seit rund 60 Jahren wird hier feuchtes Nass gespeichert, und zwar so viel, dass nicht nur Segeljachten ihre Kreise ziehen, sondern sogar zwei ausgewachsene Fahrgastschiffe ihre Runden drehen können. Auf unserem Weg nach Attendorn queren wir eine kühne Brücke, an deren linken Geländer sich der doppelt so alte Listerstausee ausbreitet. Mit Weitblicken ist es aber schlagartig vorbei, als wir auf der mit unzähligen Biegungen gespickten Etappe durch das waldreiche Ebbegebirge nach Plettenberg zischen. Wenig später stoßen wir auf die B 236 und die Lenne, der Namensgeberin des nördlich aufragenden Berglandes. Am rechten Ufer entlang tingeln wir nach Werdohl, wo wir inmitten der Lenneschlingen die Blinker in Richtung Hemer setzen. Die sich anschließende Feldwaldundwiesenstrecke kommt äußerst kurzweilig daher und den bis zu 500 Meter hohen Kuppen des Lennegebirge sehr nahe. Mit Riesenschritten eilen wir auf einer kurvenreichen und verkehrsarmen Landstraße nach Neheim, wo wir auf die Ruhr, die Hauptschlagader des Ruhrgebietes treffen. Bis zum Beginn der Industriealisierung und wachsender Bevölkerungsdichte unterlag der Flusspegel starken jahreszeitlichen Schwankungen. Um die auszugleichen, den Mangel an Brauch- und Trinkwasser einzudämmen und ausreichend Strom zu produzieren, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts der Ruhrverband gegründet und der Bau zahlreicher Stauseen in Angriff genommen.
Eine Eins mit Sternchen: Wer auf’s Nachzählen verzichtet, findet im Land der 1000 Berge ein feines Motorradparadies.
Nassgemacht: Sommerliche Erfrischung am Brunnen im sauerländischen Eslohe.
Die nahe Möhnetalsperre war seinerzeit mit 10 Quadratkilometer Wasserfläche das größte Reservoir Europas, je dichter wir ihr kommen, desto häufiger heben wir die linke Hand zum Gruß. Um einen ungestörten Blick auf die mächtige Sperrmauer mit ihren markanten Häusern zu genießen, parken wir am Möhnesee-Pavillon und gönnen uns einen Pott Kaffee auf der Terrasse oberhalb des Westfälischen Meeres. Wer mehr auf Action steht, findet im nicht weit entfernten Café Geronimo sein Glück: An Wochenenden ist hier die Hölle los, die Straße zwischen See und Restaurant wird dann zum Laufsteg, frei nach dem Motto: „Sehen und gesehen werden!“ Am östlichen Ende des XXL-Speichers verabschieden wir uns von dem Trubel und biegen in den stillen Naturpark Arnsberger Wald ab, um unsere Reifenflanken auf der bildhübschen Strecke bei Hirschberg zur verstärkten Mitarbeit aufzufordern. Das Sauerland hat nicht nur Kurven zu bieten, sondern auch etliche Brauereien. Die wohl bekannteste finden wir im nahen Warstein. Nach dem obligatorischen Fotostopp am reich verzierten Sudkessel schwenken wir auf die B 55 nach Meschede ein, um dem nächsten Wasserspeicher, dem Hennesee, einen Besuch abzustatten. Als sein Vorgänger in den 1950er Jahren unter Inkontinenz zu leiden begann, musste eine neue Staumauer her, seitdem ist alles dicht. Ganz dicht schmiegt sich windungsreicher Teer an das westliche Ufer des langgezogenen Gewässers und geleitet uns bis nach Eslohe. Selten haben wir eine Hauptstraße erlebt, die auf rund 25 Kilometern so viel Motorradvergnügen breitete. Und auf der nach oben offenen Fahrspaßskala ist noch Luft: Wie die sich anschließende Tour über den Homert, einen 600 Meter hohen Bergrücken, mit grünen Kuppen und verträumten Dörfern. Verbunden durch eine schwungvolle Nebenstrecke, aufputschend wie ein Energy-Drink. Mit dem Sorpesee erreichen wir den letzten Flüssigenergiespeicher unserer heutigen Tour. Am westlichen Ufer, oberhalb der glitzernden Wasserfläche, verläuft eine Fressmeile vom Feinsten, die für jeden Geschmack und jeden Geldbeutel etwas zu bieten hat. Das Panorama über vorbeihuschende Motorräder und das 1935 fertiggestellte Staubecken gibt‘s gratis. Wenig später bei Rönkhausen im Lennetal angekommen, verschmähen wir die Bundesstraße und geben uns als Sammler kurioser Ortsnamen zu erkennen, als wir unter voralpinen Bedingungen zum aussichtsreichen Weiler Faulebutter aufsteigen. Besorgte Gemüter können beruhigt sein, die steile Trasse wird nicht durch verdorbenes Streichfett verunreinigt; ganz im Gegenteil: Der griffige Teer verführt zum lustvollen Zug am Kabel. Auf der gewundenen Abfahrt hinunter nach Finnentrop schieben sich dann die Gipfel des Sauerlandes in unser Blickfeld und untermauern den Titel als Land der tausend Berge eindrucksvoll. Doch das Sahnehäubchen unserer Tour wartet noch auf uns, denn im Hotel Dumicketal werden die größten und leckersten Windbeutel der Region serviert.
Voll bis unter den Rand: Bei Vollstau bändigt die massive Möhneseesperrmauer mehr als 130 Millionen Kubikmeter Wasser.
Nur keine Angst: Die Straße durch Faulebutter wird nicht durch verdorbenes Streichfett verunreinigt.
Am Möhnesee sind während die Skipper noch schlafen die Biker schon längst auf den Krädern.
Fachwerk und Fahrspaß: Im Höhenzug Homert werden grüne Kuppen und verträumte Dörfer durch kurvenreiche Nebenstrecken verbunden.
Auch am nächsten Morgen bleiben Gaumenfreuden das bestimmende Gesprächsthema: Die leckeren Negerküsse unserer Kindheit kommen uns in den Sinn, als wir die elegante Brücke über den zerklüfteten Biggesee passiert haben und unsere Maschinen mit zulässiger Höchstgeschwindigkeit, legal, aber politisch völlig unkorrekt, durch Unter-, Mittel- und Oberneger schwingen lassen. Natürlich wissen wir, dass die klebrigen Süßigkeiten heutzutage Schaumküsse heißen, doch woher stammt der Begriff Sauerland? Mit Erreichen der Abzweigung zur Hohen Bracht, unserem ersten anfahrbaren Hochziel des Tages, verschieben sich die Prioritäten: Der Fahrspaß verdrängt die Neugier und rückt auf Platz 1 vor! Obwohl der grau geschieferte Turm schon von der Straße aus sichtbar ist, dauert es noch eine kleine Ewigkeit, bis wir die fast 600 Meter hohe bewaldete Bergkuppe erreichen. Der Grund dafür ist die an eine große Portion Spaghetti erinnernde Streckenführung. Kaum haben wir die Aussichtsplattform des gleichnamigen Turmes erklommen, liegt uns die Burg Bilstein buchstäblich zu Füßen, während sich am Horizont das Ebbegebirge, das Lennebergland, die Saalhauser Berge und unser eigentliches Ziel, das Rothaargebirge, aneinanderreihen.
An die Leine genommen: Dank Stahlseilen trotzt der hölzerne Rhein-Weser-Turm den ruppigen Winden des Rothaargebirges.
Zickige Models: Während sich die echten Wisente im Wald verbargen, mussten halt die stählernen Exemplare fürs Foto stillhalten.
Im nahen Kirchhundem angekommen, brauchen wir nur der Ausschilderung Panorama-Park Sauerland Wildpark folgen, um wenige Kilometer später eine Art Stilfser-Joch-Auffahrt en miniature mit allen Sinnen zu genießen. Mit unserem Halt am 1932 erbauten Rhein-Weser-Turm, dem zweiten anfahrbaren Hochpunkt, sind wir mitten im waldreichen Rothaargebirge angelangt, dessen Kamm eine natürliche Wasserscheide bildet. Während an der Westseite fallende Niederschläge letztendlich im Rhein münden, fließen die an der Ostseite niedergehenden Regentropfen später in die Weser. Die vielen Bäche und Flüsse sollen der Region den Namen gegeben haben, meinen die Gelehrten, andere wiederum führen den Begriff auf einen alten Germanenstamm zurück. Und die haben Wisente gejagt, denn Fleisch und Fell sicherten das Überleben. Unsere Urahnen sind verschwunden, die gehörnten Großrinder zurück. Die kurvenreiche Bergetappe zwischen Aue und Fleckenberg führt uns durch die 2012 eingeweihte „Wisent-Wildnis“, ein 20 Hektar großes, naturbelassenes Areal, das einer jungen Herde neuen Lebensraum schenken soll. Wenig später streben wir gegen den Strom in Richtung Lennequelle. Schmallenberg mit seinen kunstvoll verzierten Schieferfassaden sieht nur noch unsere Rücklichter, als wir erwartungsvoll die Hochsauerland-Höhenstraße unter die Räder kommen lassen. Der 841 Meter aufragende Gipfel des Kahlen Astens ist nicht nur unser drittes anfahrbares Hochziel, sondern auch der dritthöchste Berg des Rothaargebirges. Während der Astenturm für eine fantastische Rundumsicht sorgt und in der benachbarten meteorologischen Station Wetterbeobachtungen durchgeführt werden, läuft die Kaffeemaschine im Bistro auf Hochtouren, denn der „König der sauerländer Berge“ ist ein äußerst beliebter Bikertreff.
Hält das Wetter? Der Gipfel des Kahlen Asten ist nicht nur ein gut besuchter Bikertreff, sondern auch meteorologische Station.
Besonders heute, weil er seinem Ruf, sonnenscheinärmster Punkt Deutschlands zu sein, zum Glück nicht gerecht wird. Die Lennequelle, die hier irgendwo im Unterholz verborgen scheint, lassen wir links liegen, rollen durch das quirlige Winterberg und beschleunigen zur Kinderstube der Ruhr. Gut ausgeschildert, mit kleinem Parkplatz und bequem zu Fuß zu erreichen, staunen wir über das glucksende Rinnsal, das auf seinem Weg westwärts zu einem wichtigen Strom wachsen wird und einem bedeutenden Wirtschaftsstandort seinen Namen verleiht. Einige Historiker führen den Begriff Sauerland auf „Süderland“ zurück, Gebiete, die südlich der Ruhr liegen. Mit dem Abzweig nach Düdinghausen verlassen wir die kurzweilige Hochsauerland-Höhenstraße und wechseln auf einer klitzekleinen Asphaltpiste nach Hessen.
Zu Besuch in der Kinderstube: Direkt an der Ruhrquelle lassen sich Größe und Bedeutung des Wasserlaufs noch nicht erkennen.
Die Qual der Wahl: Ein dichtes Netz kleinster Straßen führt bis in die hintersten Winkel des fahrerisch reizvollen Rothaargebirges.
Den Bogen raus haben: Der kühne Willinger Eisenbahnviadukt markiert die nordöstlichen Ausläufer des Rothaargebirges.
Beeindruckt gleiten wir in Willingen zwischen den langen Beinen des fast hundertjährigen Eisenbahnviaduktes hindurch, um kurz danach auf verkehrsarmer Trasse bei Bruchhausen wieder nach NRW zurückzukehren. In Siedlungshausen erneut auf der verschlungenen Höhenstraße unterwegs, haben wir damit den Langenberg und den Hegekopf umrundet, zwar nicht das Dach der Welt, aber das Höchste im Rothaargebirge. Für unseren weiteren Rückweg haben wir fast ausnahmslos ehrliche Landstraßen eingeplant: Unzählige Biegungen, sanfte Kuppen und kleine Wälder wechseln sich mit schmucken Giebeln, kunstvollem Fachwerk und gepflegten Vorgärten ab. Nach einem entspannten Abstecher durchs Fredeburger Land und die Saalhauser Berge geht uns die stark frequentierte B 55 zwischen Oedingen und Finnentrop so sehr auf die Nerven, dass wir froh sind, endlich ins stille Repetal flüchten zu dürfen. Je näher wir dem Hotel kommen, desto dringender stellt sich uns die Frage, ob wir am Abend Zigeunerschnitzel bestellen – politisch korrekt, natürlich!
Fotos: Frank Sachau
Über den AUTOR
Frank Sachau
Seit mehr als 30 Jahren ist Frank auf BMW GS-Modellen unterwegs zwischen Dänemark im Norden, der Toskana im Süden, den Pyrenäen im Westen und Polen im Osten. Zwischendurch führten die Reisen immer wieder in die Alpen: Zwischen Wien und Nizza blieb kein namhafter Pass unberührt. Und selbstverständlich kamen auch Deutschlands schönste Flecken unter die Räder.