Großer Aufbruch im alten Steinbruch

Stolz sind sie ja, die Westerwälder. Besonders auf ihr Wetter: „Kommst hier her, brauchst nur einen Tag, und hast alle vier Jahreszeiten!“ Könnte man jetzt als Schnack abtun. Aber als Harley-Davidson im April sein neues Flaggschiff mit dem erstmals eingesetzten Revolution Max-Motor im alten Basalt-Steinbruch Enspel bei Bad Marienberg vorgestellt hat, ist es exakt so gekommen: Morgens Frost, gegen Mittag fast Sommer-Sonnenschein, dann herbstliche Dunkelwolken und am frühen Abend Schnee und Graupel – ideale Westerwälder Bedingungen also, um die lang erwartete Pan America, den neuen Allrounder aus Milwaukee, auf Herz und Nieren zu testen. So eine Enduro, die soll ja alles können.

Fallert Achern Team

Die PanAm macht sowohl auf der Straße … 

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… als auch im Gelände eine gute Figur.

Echte Liebe und neue Standbeine

Die Pan America ist für Harley-Davidson ein extrem wichtiges Motorrad: Die Liebhaber stehen fest zu ihrer Marke. Aber das Image der amerikanischen Schwerstcruiser aus Wisconsin ist jenseits der geschlossenen Reihen der Verschworenen eher altbacken. Auch die Verkaufszahlen sind in den letzten Jahren massiv zurückgegangen. Nicht nur in Europa, auch zuhause: Harley-Davidson leidet. 
Um dem finanziellen Niedergang Einhalt zu bieten, setzt man für die Zukunft auf die gerade angekündigte, aber noch zu entwickelnde Parallelmarke LiveWire für Elektro-Bikes und auf einen weiteres Standbein im Verbrenner-Portfolio: Die PanAm – wie sie bei Harley liebevoll genannt wird – ist der erste Wurf, um im Markt der großen Reiseenduros Fuß zu fassen. 
Jochen Zeitz, der deutschstämmige Präsident und CEO von Harley-Davidson, sagt: „Die Pan-America strahlt diese Go-Anywhere-Idee aus, die heute von Fahrern in den USA und rund um den Globus geteilt wird.“ Was er damit meint: Weltweit will Harley-Davidson in den nächsten Jahren BMW, Ducati, Triumph und KTM Marktanteile abnehmen. Die neue Pan America – zunächst in den zwei Versionen 1250 und 1250 Special – soll im wichtigen europäischen Markt die GS- und der Multistrada-Fahrer abspenstig machen und vor allem in den Staaten selbst die abtrünnigen Adventure-Fahrer wieder nach Hause holen.
Dafür hat Harley-Davidson nicht nur ein Motorrad mit einer für die Firma komplett neuen Philosophie – hochbeinig, agil und mit einem Multitalent gesegnet – versehen, sondern auch einen radikal aktuellen Motor entwickelt. Das Grundformat, das ikonische V-Twin-Aggregat, hat man behalten, doch unter dem herkömmlichen Heavy Metal-Look versteckt sich modernste Technik: Eine Harley hat plötzlich Features wie variable Ventilsteuerung, hydraulischen Ventilspielausgleich oder Natrium-gefüllte Auslassventile. Hightech bei H-D, wer hätte das gedacht?
Das „Revolution Max“-Aggregat liefert 152 PS und holt 128 Nm maximales Drehmoment aus seinen 1.252 ccm Hubraum – das sind Werte, von denen Harley-Fahrer bisher nur träumen konnten und mit denen man auch gegenüber der etablierten BMW R 1250 GS die Nase vorne hat. Es ist völlig klar: Der Revolution Max-Motor ist die Waffe beim Angriff auf den Münchner Boxer und Platzhirsch unter den großen Enduros.

 

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Die LED-Zusatzscheinwerfer sind Serie.

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Der Standardauspuff mit „tirolkonformen“ 90 dB(A) Standgeräusch. 

Schluss mit Heavy Metal

Zwei Fahrtage hat Harley-Davidson für uns organisiert und ein umfängliches Hygiene-Konzept mit regelmäßigen Schnelltests entwickelt, um die Pan America im Westerwald vorzustellen. 
Tag eins: Zur Optik sind die ersten Eindrücke geteilter Natur – love it or hate it. Die PanAm ist eigen und eigenständig ohne den typischen Enduro-Schnabel und mit ihren dicken Harley-Backen. Sie grenzt sich auf jeden Fall optisch von den Mitbewerbern ab. Schwerfällig ist sie dabei nicht: Wenn man erst einmal in ihr sitzt, ist sie durch den niedrigen Schwerpunkt des Revolution Max leicht zu bewegen. 
Die erste Überraschung kommt gleich nach dem Start: Das 1250 Special-Modell, das wir fahren, ist mit dem Harley-eigenen „Adaptive Ride Height“ (ARH) ausgestattet. Das mehrfach konfigurierbare System senkt das Fahrzeug im Stand um bis zu 50 mm ab. Die PanAm hat damit nur noch 800 mm Sitzhöhe; kleine Fahrer wird das freuen. Freude bereiten auch die Ergonomie und das Cockpit: gute Sitzbank, auf zwei Höhen bis max. 870 mm verstellbar, eine schmale Taille, enger Knieschluss; die Fußrasten passen. Die Armaturen, das Cockpit und das 6,8-Zoll TFT-Touchscreen-Display, alles sauber gelöst. Man ist nach wenigen Minuten hinter dem Lenker angekommen. 
Auf der Fahrt zeigt sich zügig, dass die hochwertigen Komponenten, die Harley verbaut hat, bestens harmonieren. Das von der Sensorik, die z.B. Fahrsituation, Beladung oder Schräglage überwacht, elektronisch gesteuerte Fahrwerk, die Brembo-Bremsen, fünf Fahrmodi, Kurven-ABS, eine clevere Anfahrhilfe und eine für Schräglage sensible Traktionskontrolle – das gesamte Elektronik-Paket ist umfassend und stimmig.
Die spürbare Folge: Der Revolution Max-Motor hat ein feines technisches Hinterland und Umfeld, in dem er seine Vorzüge ausspielen kann. Der Motor bollert bestimmt, aber nicht zu ordinär los; im Vergleich etwa zur Multistrada oder der GS ist das Standgeräusch mit 90 dB(A) mit der Standard-Auspuffanlage geradezu leise; man läuft mit der Pan America auch in Zukunft kaum Gefahr, in österreichischen Tälern negativ aufzufallen – das will schon was heißen bei einem Fahrzeug aus dem Hause Harley-Davidson. 
Gleichzeitig hat das Triebwerk Kraft ohne Ende und das Drehmoment so ein breites Band, dass Schaltfaulheit oder -fehler ohne Belang sind. Der Revolution Max zeigt sich völlig unbeeindruckt und dreht zügig bis an die 9.000 Umdrehungen. Das sind Harley-unbekannte Höhen. Wenn es doch mal schnell gehen soll, passt dazu das Getriebe. Die Gänge lassen sich butterweich schalten; man kann beim Hochflippern durchaus auf die Kupplung verzichten. Ein Quickshifter ist angekündigt, aber eigentlich nicht nötig. 
Erstaunlich, wie gut das Paket funktioniert: Der stärkste Motor, Den Harley je gebaut hat, mit seiner Urkraft, mit Druck unten, Leistung oben, Laufkultur und jubilierender Drehfreude. Das Fahrwerk mit tadellosem Handling und den sensibel ansprechenden Showa-Elementen, einstellbar auf jede Eventualität und Beladung. Der Antrieb mit der Harley-untypischen Kette, die griffigen Scorcher-Adventure-Reifen von Michelin – die Fuhre geht steil auf der Landstraße und stur geradeaus auf der Autobahn.
Auch die mitgelieferten Fahr-Modi Road, Sport, Rain, Off-Road und Off-Road Plus sind beeindruckend, weil lobenswerterweise sehr unterschiedlich programmiert. Im Sport-Modus etwa hängt die 1250 Special wirklich ganz direkt am Gas; bei Rain dagegen wirkt das Fahrzeug regelrecht eingeschläfert und muss durch ordentlich Gas sanft zum Leben erweckt werden. Sehr gut, besser als bei manch anderen Herstellern.
Der Fahrtag auf den Westerwälder Straßen macht jedenfalls Lust auf mehr; die Ingenieure, Techniker und Entwickler aus Milwaukee haben aus dem Stand heraus ein Fahrzeug ins Rollen gebracht, dass so gar nicht an eine Harley, wie wir sie kennen, erinnert und keinen Vergleich zur Premium-Modellen aus Spandau, Mattighofen oder Bologna scheuen muss. 

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Love it or hate it. Die Schnauze der Pan America ohne einen typischen Enduroschnabel und inklusive fetter Harley-Backen.

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Ready for Adventure: voll aufgerödelt mit den original Harley-Koffern.

Lange Lernkurve 

Am zweiten Tag schickt uns Harley-Davidson in den Steinbruch, ins Gelände. Und wieder regnet es, der Schlamm spritzt, und die 1250 Special schlägt sich wieder gut: Der Koloss ist, diesmal mit den Michelin Anakee Wild bereift, trotz seiner Vierteltonne Kaufgewicht ein echter Dreckwühler. Der Motor hat auch bei tiefen Drehzahlen immer gutes Vorwärts-Momentum; er ackert sich stoisch durch den Dreck. 
Gewöhnungsbedürftig ist allerdings, dass der Vortrieb auch im Schubbetrieb kaum nachlässt: Wer z.B. auf steilen Abwärtspassagen die Motorbremskraft des Boxers gewohnt ist, wird diese Fahrhilfe im ersten Moment vermissen und muss sich umorientieren. Nachteilig wirkt sich auch der etwas lange Radstand von 1.558 mm aus. Was auf der Straße für Ruhe sorgt, macht im Gelände etwas hüftsteif. 
Ohnehin legt der Offroad-Tag die wenigen konstruktiven Schwachstellen der PanAm offen: So hat z.B. der Standard-Unterfahrschutz vorne eine Aussparung, aus der Kühlrippen herausragen – für echte Offroader ein Unding. Eine saubere Lösung bietet H-D gegen Aufpreis im Zubehör. 
Als konstruktiv kritisch erweist sich bei Dreck und Staub auch der Windschutz: Die Verstell- und Arretierungsmechanik ist aus eher schmächtigem Plastik und geht bei  Staub und Dreck schnell fest. Seltsam ist auch die Anordnung des Seitenständers, der sich in manchen Stellungen mit dem Zentralständer verhakt. Es sind genau diese kleinen Unpässlichkeiten, die zeigen, welchen Wert z.B. über 40 Jahre Münchener Ingenieursarbeit bei der Entwicklung von Offroad-Fähigkeiten haben. Da geht noch was bei der PanAm. 
Doch neun von zehn PanAms werden ohnehin nie abseits des Asphalts bewegt werden. Für diese Fahrer zählt, was die PanAm auf der Landstraße und der Autobahn bringt. Und da kann man konstatieren: Mit welcher Schnelligkeit sich Harley-Davidson von dem Potato-Potato Cruiser-Mindset befreit und sich das große 1×1 der Adventure Tourer und schweren Reise-Enduros angeeignet hat – alle Hochachtung. Der wuchtige Aufschlag mit der Pan America ist eine bravouröse Leistung aus Milwaukee.

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Los geht’s: Fahrt hinaus aus dem Pan America Adventure Camp.

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Die PanAm hat ein tolles TFT-Display mit kompletter Connectivity.

Was kostet das jetzt in der EU?

Harley-Davidson bietet die Pan America, die in Thailand gefertigt wird und ab Juni 2021 in Deutschland  ausgeliefert werden soll, in zwei Ausführungen an. Die 1250 als Standard-Version hat bereits das große Display, ein umfassendes Elektronik-Paket und fünf Fahrmodi. H-D liefert dieses Fahrzeug in schwarz und grau aus. 
Die Special-Ausführung, von der es die vier Farbvarianten schwarz, grau, grün und orange-weiß gibt, bringt wesentlich mehr Features mit: z.B. das elektronisch gesteuerte, semiaktive Fahrwerk, optional auch die automatische Fahrwerksabsenkung AHR, ein Reifenluftdrucks-Kontrollsystem und das adaptive Kurvenlicht. Weitere Zubehörteile sind für beide Fahrzeuge in Hülle und Fülle verfügbar: Kreuzspeichenräder, Topcase, Reisekoffer, Tanktaschen – alles was das Herz des Großenduro-Fahrer begehrt. 
Wie massiv Harley-Davidson auf den Markt der Adventure-Tourer drängt, zeigt auch der Preis: Die Pan 1250 kostet in Deutschland ab 15.995 Euro; für die Special ruft H-D mindestens 17.995 Euro auf. Im Vergleich zur Konkurrenz aus München und Bologna sind das echte Kampfpreise.
Diese Zahlen haben nun nach einigen Verwerfungen im transatlantischen Handelskrieg auch erst einmal Bestand: Nur wenige Tage nach der PanAm-Vorstellung hatte die Europäische Union neben anderen Waren auch alle Harley-Davidson-Motorräder mit einem zusätzlichen 50 Prozent „Made in USA“-Strafzoll versehen – also auch diejenigen Modelle, die in Thailand gebaut und montiert werden und bisher nur mit 6 Prozent verzollt werden mussten. 
Summa summarum sollte damit auf jeder nach Deutschland eingeführten Pan America ab Juni 2021 also 56 Prozent Zoll erhoben werden – und damit wären die genannten Verkaufspreise eigentlich kaufmännisch nicht zu halten gewesen. Harley-Davidson hat sofort gegen die EU-Entscheidung Klage eingereicht: „Dies ist eine beispiellose Situation und unterstreicht den sehr realen Schaden eines eskalierenden Handelskrieges auf beiden Seiten des Atlantiks. Die Einführung eines Importzolls auf alle Harley-Davidson Motorräder widerspricht allen Vorstellungen von freiem Handel,“ kommentierte CEO Jochen Zeitz.

Jetzt gibt es erst einmal Entwarnung: Die EU verzichtet vorerst auf weitere Gegenmaßnahmen wegen der 2018 von den USA verhängten Strafzölle auf Stahl und Aluminium aus Europa. Bis Jahresende geht es erst einmal zurück an den Verhandlungstisch. Nils Buntrock, Pressemann von Harley-Davidson in Deutschland, geht pragmatisch mit der Situation um. Er sagt: „Die Preise stehen so jetzt erst einmal im Raum. Und bleiben wohl auch stehen. Wer kauft, ist sicher gut bedient. Ein gutes Motorrad zu einem guten Preis.“
Kurzentschlossene warten das Ergebnis des Handelskrieges ohnehin gar nicht erst ab – da gibt’s selten Gewinner.

Fotos: Harley Davidson

Über den AUTOR

JOCHEN VORFELDER

Lebt und arbeitet in Hamburg. Der Freie Autor schreibt seit Jahrzehnten über Technik- und Umweltthemen für Fachzeitschriften, Motorradmagazine, G+J-Publikationen und Spiegel Online. Er betreut die Social Media-Kanäle mehrerer Unternehmen und betreibt seinen eigenen Motorrad-PageFlow-Blog.

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